Jussifs Gesichter
Leben in diesem Haus, bevor er es verlassen hatte: an die Zeit vor seiner Entlassung aus dem Militär, die für ihn bis zu dem Tod des kleinen Mädchens mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt dauerte, und die Zeit nach seiner Entlassung aus dem Militär, die sich bis in die Gegenwart erstreckte.
Vor allem die Jahre danach hatten ihre Furchen in seinen Gesichtszügen hinterlassen. Wie Hunderte anderer Menschen auch hätten sie ihn ins Gefängnis werfen können, weil er nicht der Regierungspartei angehörte. Oder er hätte sich gequält, weil diese Jahre später eine endlose Verantwortung mit sich brachten, mit Seitensprüngen, Frieden und Kriegen.
Keiner der Cafébesucher erkannte in der abgerissenen und ausgezehrten Gestalt Jussif, den müden Jussif mit dem vorzeitig gealterten Gesicht. Fast jede Nacht war er von zu Hause geflohen und hatte seine Nächte ziel-und planlos in den Straßen verbummelt. Dabei widerstand er dem Wunsch, die Unterwelt in den kleinen Spelunken in Salihija und am Bab Scharqi zu suchen, und endete meistens in einer Bar hinter dem Museumsplatz. Diese Bar trug in der Zeit des gläubigen Vormarschs den Namen »die geheime Bar«, während Josef Karmali oder JosefK. sie »Die Mekka-Bar« nannte. Jussif hatte ihm versprechen müssen, dass sie eines Tages in dem Roman vorkommen werde, der schon in seinem Geist herumspukte und dem er den Titel »Roman aus der Mekka-Bar« verliehen hatte. Auf Josefs Frage, warum er einen so provozierenden Titel ausgewählt habe, antwortete er: »Weil die Menschen den Schock brauchen und weil diese Bar der einzige Ort in diesem Land ist, an dem die Meinungsfreiheit keine Grenzen kennt und die Leute daher zu ihr pilgern.«
Die Bar war klein und schmutzig. Da sie keine Fenster hatte und selten frische Luft eindrang, roch es faulig, und nur Seufzer und Lieder, Weinen und Kotze von Betrunkenen mischten sich miteinander. Jussif hätte sich jederzeit auf dem wackligen Stuhl an dem alten runden Tisch niederlassen können, der mit einem fleckigen Tischtuch bedeckt war, auf dem Zigaretten ihre Spuren eingebrannt hatten. Er hockte da, als würde er die anderen nur beobachten, um vor sich selbst zu fliehen. Mit einem Achtel Zahlawi-Arrak erkaufte er sich das Recht, hier über die Enttäuschungen seines Lebens bis hin zur vergangenen Nacht nachzudenken. Über sein geteiltes Leben zwischen seiner Frau Sarab, mit der er unter falschem Namen in ihrem Elternhaus, dem Haus Onkel ‘Assims, wohnte, und all den anderen: seiner Mutter, seinem Bruder, der seit den Tagen des ersten Krieges verschollen war, Rifqa, Rahma, Schafaqa und Ra’fa, den kleinen Töchtern seines Bruders, für die zu sorgen er die Verantwortung übernommen hatte, Mariam, ihrer Mutter, der hübschen und jungen Frau seines Bruders, die mehr und mehr dem Wahnsinn zu verfallen schien, die seit dem Verschwinden seines Bruders jede Nacht seinen Beischlaf forderte, aber darauf bestand, ihn mit dem Namen seines Bruders anzusprechen, während in der einen Nacht alles in ihren Augen nach Kummer, Qual und Schmerz, in der nächsten aber nach Hoffnung und Einbildung verlangte.
Jussif saß bis spät in der Nacht in der Bar. Er traute sich nicht, zu mitternächtlicher Stunde in sein Elternhaus einzudringen. Er fürchtete sich vor der Begegnung mit der Frau seines Bruders. Wie gewöhnlich würde sie noch wach sein. Sie würde auf seine Schritte lauschen und »Junis« rufen. Es hatte keinen Sinn, sie zu bitten, diesen Namen nicht zu verwenden. Sie wusste sehr wohl, dass er nicht Junis war. Je mehr er sie bat, ihn nicht mit diesem Namen anzusprechen, desto mehr verstärkte sich ihr Wunsch, ihn so zu nennen. Mit der Zeit hatte es ihr nicht mehr genügt, ihn von ihrem Bett aus zu rufen, sondern sie hatte begonnen, ihn im Korridor abzupassen. Sobald sie ihn sah, zog sie ihn zu sich herein und sagte: »Junis, mein Mann, schau dir deine Töchter an!« Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn in das Zimmer ihrer Töchter, die schlafend in ihren Betten lagen: Rifqa, Rahma, Schafaqa und Ra’fa. Dann zerrte sie ihn zum Bett, legte sich auf den Rücken, streifte das Gewand hoch, zog den Slip aus, machte die Beine breit, öffnete die Schamlippen und rief: »Junis, nimm mich! Bitte, mach mir ein fünftes Töchterchen!« Zwei-oder dreimal hatte er angesichts der nackten Schenkel, der Scheide und der Brüste dem Verlangen widerstanden, mit ihr zu schlafen, und es war ihm gelungen, sich aus dem Staub zu machen.
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