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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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sich ihre Gesichtszüge von denen der Einheimischen unterschieden. Sie wiesen nämlich ein gemeinsames Merkmal auf: die Angst. Und so eilte er weiter, ohne sich um sie zu kümmern. Er war geschützt durch das Bild des kleinen Mädchens mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt. Er spürte, wie sein Puls sich hob und senkte; er spürte, dass er lebte.
    Jussif war berauscht von diesem Gefühl, das durch seinen Körper strömte. Er spürte, wie er allmählich alles wiedererlangte, was er bis zum heutigen Tag verloren hatte. Alles kehrte Stück für Stück zu ihm zurück. Alles, was er bisher verloren hatte, dieses Bündel von Jahren, das sich stets aus Zufällen und Befehlen zusammensetzte, hatte er unachtsam an sich vorbeiziehen lassen. Er war ein Körper ohne Geist gewesen, nur darauf ausgerichtet, seine Pflichten zu erfüllen. Doch wenn er dieses Jahresbündel neu gestaltete, wenn er seine Rechnungen mit dem anderen, mit den anderen beglich, wenn er aus der Einsamkeit emportauchte wie ein Kranker, der sein Leben zwischen vier Wänden gefristet hat, das Krankenhaus verlässt und die Welt jetzt mit unersättlicher Sehnsucht betrachtet – dann würde er zu Sarab zurückkehren und ihr sagen: Hier bin ich, wie ich sein möchte, aber bisher nicht sein konnte.
    Er spürte, dass er wirklich ein anderer Mensch geworden war. In diesem Moment erkannte er, was ihn bisher daran gehindert hatte, allmählich zu sich selbst zurückzufinden: Er musste aufhören, der alte Jussif zu sein!

Viertes Kapitel
    Die Erschaffung von Namen:
    ein Labyrinth voller Masken und Spiegel
     
    Inzwischen hatte der Tag schon viele Stunden Arbeit hinter sich. Immer greller schien die Sonne; ihre Strahlen spiegelten sich in den Wasserpfützen, die der Regen auf dem Boden des unüberdachten Innenhofs im Allawi -Busbahnhof hinterlassen hatte. Jussif fiel ein, dass er diesen Busbahnhof zuletzt am 18. August 1988 aufgesucht hatte, als er aus der Armee entlassen worden war. An jenem Tag war er gegen zwei Uhr nachmittags zum ersten Mal nach zwei Jahren wieder in Zivilkleidung aus dem Bus gestiegen. Er konnte noch nicht glauben, dass er dem Militär endgültig den Rücken kehren würde. Bislang hatte man es ihm immer nur kurzzeitig erlaubt, die Freiheit zu genießen, insgesamt fünfmal. Immer wieder hatte man ihn zurückgeholt, egal wo seine Einheit gerade lag. Beim letzten Mal hatte sein Glück nur etwa eine Stunde gedauert – so lange, wie der Bus brauchte, um die Strecke vom Militärlager bis zur Hauptstadt Bagdad zurückzulegen. Die ersten drei Male stellten sich die Feldjäger in die geöffnete Tür des Busses und forderten die Reisenden auf, ihre Papiere zu zeigen. Die beiden anderen Male warteten sie am Tor zum Busbahnhof und fragten nach jemandem, der »Harun Wali« hieß; es war der Name, den er damals trug. Jedes Mal erklärten sie ihm, er müsse sich keine Sorgen machen, es sei eine reine Routineangelegenheit, wahrscheinlich ein Irrtum der Kompanieleitung. Er mussteeinen Tag länger Uniform tragen. Weil das Kompaniegeschäftszimmer in der Kaserne schon geschlossen war, mussten sie ihn in Harithija in eine Arrestzelle in der Nähe vom Zaura’-Park einliefern. Erst am nächsten Morgen übergaben sie ihn seiner Kompanie.
    Namen sind nur Zufall. Wenn man aber den Zufall in Schicksal oder Norm verwandelt, wird die Sache zum Problem. Sobald er seine Entlassungspapiere in Empfang genommen hatte und das Dienstzimmer seines Bataillonskommandeurs zur endgültigen Abmeldung betrat, begannen die dort versammelten Offiziere, sich über ihn lustig zu machen. Sie dachten sich absurde und lächerliche Aufträge aus, die er an seinem letzten Tag ausführen musste. Doch nicht nur die Offiziere nahmen ihn aufs Korn. Auch seine Kameraden erfanden die merkwürdigsten Dinge für seinen letzten Tag. Er sollte beispielsweise Feldwebel Daham umbringen, der für das Disziplinarbuch über die Führung der Soldaten, die sogenannten Kunija, verantwortlich war. Aber auch dieser letzte Tag ging vorüber. Man entließ ihn einfach so, obwohl ihn noch beim Herabspringen von dem kleinen Transporter, einem Coster, die verzweifelte Angst beherrschte, dass sie ihm an der nächsten Straßenecke auflauern würden, sobald er eines der Cafés betrat.
    Bevor Jussif zur Weiterfahrt in einen der Linienbusse stieg, kaufte er von einem fliegenden Händler ein Eiersandwich. Er war hungrig; seit dem Nachmittag des vorigen Tages hatte er nichts mehr gegessen. Am Abend

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