Jussifs Gesichter
dass er ein andermal wieder Stunden lang dahockte, um einen weiteren Tag zu Ende zu bringen, an dem er wieder nicht mit sich ins Reine gekommen war. Es war, als säße an dem schmutzigen Tisch, zwischen Zigarettenasche und Gegröle der Besoffenen ein anderer, der täglich daran scheiterte, mit sich selbst Frieden zu schließen. Und ein jeder von ihnen würde seines Weges gehen.
Langsam stieg er die Stufen hoch, zum Zimmer auf dem Dach. Er kannte die Anzahl der Stufen genau. Eine nach der anderen hatte er sie mit seinem Bruder und seinem Vetter gezählt. Dieser bestand darauf, die Treppe auf Händen zu ersteigen, im »Skorpionsgang«, wie sie es nannten. Und oft hatte sein Bruder gewarnt: »Pass auf, dass du nicht irgendwann wirklich ein Skorpion wirst!« Sein Vetter hatte sich nicht in einen Skorpion verwandelt, sondern in einen klebrigen Kohleklumpen, den man seiner Tante in einer Plastiktüte brachte. Aber sie verweigerte die Annahme. Sie sei sicher, dass es ein anderer Soldat sei, erklärte sie. Seit jenem Tag wartete sie auf seine Heimkehr. Und jetzt war statt seines Vetters Jussif zurückgekehrt. Er überlegte sich, was geschähe, wenn er der Tante einredete, er sei Karim. Vielleicht würde sie ihm glauben und ihren Verstand zurückerlangen. Doch was, wenn sie sich mit dem Gedanken an seinen Tod ausgesöhnt hatte? Würde sie überhaupt am Leben bleiben? Vielleicht war dies seiner Mutter widerfahren: Es war für sie zu schwer gewesen, den Verlust beider Söhne zu verwinden: Der erste war vermisst oder gefallen, der zweite hatte sich der eigenen Existenz entzogen.
Er blieb in der Mitte des Dachzimmers stehen und setzte den Koffer ab. Dann schweifte sein Blick durch den Raum, und schließlich ließ er sich auf die Bettkante nieder. Alles war an seinem Platz: das Bett, die beiden Kommödchen, der Wandspiegel. Auf dem Tisch lagen sogar noch ein paar Bücher, die erzerrissen, wie sie waren, dort hatte liegen lassen: Er sah sich die Umschläge an: »Brudermörder« von Nikos Kazantzakis, »Die Brüder Karamasow« und »Die Dämonen« von Dostojewski, »Der Prozess« von Franz Kafka und »Der Fremde« von Albert Camus. Dieses Buch hatte sein Bruder eines Tages in die Hand genommen und ihn spöttisch wie böse angegiftet: »Du wirst immer ein Fremder bleiben. Wie diese Existentialisten hier.« Jussif hatte noch vor Augen, wie sein Bruder am selben Tag wutentbrannt die Umschläge dieses Buches und zweier weiterer – den des »Brudermörders« und den der »Dämonen« – zerfetzte. Dabei schrie er: »Dies ist das Ende. Du willst ja, dass wir uns in Brudermörder und Dämonen verwandeln.« Es fiel Jussif schwer, seinen Bruder zu überzeugen, dass die Lektüre eines Buches nicht bedeutete, dass man sich alles zu eigen machte.
Jussif erinnerte sich genau, wann sein Bruder anfing, ihm wirklich böse zu sein: als er merkte, dass sich der kleine Bruder anders als er entwickelte und zum Einzelgänger wurde. Allmählich begann Jussif damals Entschuldigungen zu erfinden, um sich in sein Zimmer auf dem Dach zurückzuziehen und mit seinen Büchern und Phantasien ungestört allein zu sein. Es regte ihn zunehmend auf, seinen Bruder bei Ausflügen und zweifelhaften Unternehmungen zu begleiten, die er selbst »Geschäfte« nannte. Junis fuhr mit dem Toyota Super zu einigen Cafés oder klopfte an die Türen prächtiger Häuser, während Jussif im Auto auf ihn wartete. Dann kam er im Gespräch mit irgendwelchen zwielichtigen Typen zurück, deren Gesichter Jussif nicht erkennen konnte. Bevor Jussif nach den Typen gefragt hatte, begann er über ein Thema zu sprechen und Geschichten zu erfinden, die Jussif nur schwer glauben konnte. Er sagte dann zum Beispiel, X sei Generaldirektor des Bewässerungs-oder Erdölministeriums, Y leite eine Firma, deren Fabriken in Übersee lägen und die in Bagdad auf der Suche nach Agenten sei und so weiter.
Jussif begriff nie so ganz, welcher Beschäftigung sein Bruder eigentlich nachging. Obwohl er sich unter dem Dienstgrad Gefreiter als Freiwilliger zum Militär gemeldet hatte, sah er ihn nur selten in Uniform. Und als er ihn einmal spöttisch fragte, ob er denn ständig Urlaub habe, erwiderte er, er sei ein Soldat für Sondereinsätze und Jussif solle seine Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten stecken. Jussif antwortete darauf mit bitterer Ironie, dass es sich bei den »Sondereinsätzen« hoffentlich nicht um Folter handele. Doch sein Bruder hieß ihn zu schweigen und seine Zunge zu hüten.
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