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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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Nylonfaden lief, den man für das Aufsetzen der Maske um den Kopf band.
    Als er die Maske zwischen den Händen hin und her drehte, fiel eine Brille herunter, die an einem Faden hing, der sich an der Seite der Maske verhakt hatte. Die Brille hatte ihre Farbe verloren; nur ein abgewetzter Streifen war noch zu sehen. Jussifsetzte sie auf und starrte ein paar Minuten an die Decke. Plötzlich dämmerte ihm, dass diese seitlich geschlossene Brille Teil der Maske war. Und er erinnerte sich jetzt sehr deutlich, wie er diese Maske erstanden hatte, am Eingang eines Kinos, dessen Name ihm entfallen war.
    Lange sann er darüber nach, wie der Film hieß. Plötzlich merkte er, dass es dunkel um ihn war. Also erlebte Bagdad wieder einmal einen seiner üblichen Stromausfälle. Sie konnten Stunden dauern, manchmal bis zum nächsten Tag.
    Er stellte die Kartons an ihren Platz zurück. Maske und Brille hielt er sich vors Gesicht, wie er es als kleiner Junge zu tun pflegte. Damals bestand er darauf, die Masken die ganze Nacht hindurch zu tragen, weil er aufwachen und auf die Straße gehen wollte, damit die Menschen ihn mit einem anderen Gesicht sehen würden, mit einem Gesicht, das er sich ausgesucht hatte! Er wollte ein anderer sein, der »Fremde«, wie es sein Bruder ausgedrückt hatte, aber weder Superman noch Batman noch Spiderman, auch nicht Zorro. Er war einfach ein anderer: einer, der sich selber noch nicht kannte, der auf der Suche nach sich war. Einer, der jedermann sein konnte außer dem einen, der in jener Nacht so verzweifelt war, dass er sich entschloss, sich den Namen seines Bruders anzueignen, obwohl dieser nicht müde wurde, ihn zu warnen, dass er etwas auf sich lade, was erst die Zukunft ans Licht bringen würde. Doch wenn es ihm gelungen war, sich in dieser langen Zeit zu wandeln und zu maskieren, warum fühlte er dann schlagartig diese Schwäche in sich aufsteigen, als er die alte Maske aufsetzen wollte? Wer einmal eine Maske anlegt, der kann sie nicht so leicht wieder abnehmen. Er muss das Spiel bis zum bitteren Ende durchhalten. Hatte das häufige Wechseln der Masken dazu geführt, dass er selbst nicht mehr wusste, wer er war und welche Maske sein Gesicht bedeckte? Vielleicht sollte er sich in Zukunft ein Sammelsurium aller Masken aufsetzen, eine dickeMaske, die auf seinem Gesicht saß und mit der Zeit wuchs, bis sie zu einem Teil seiner selbst wurde? Diese Maske würde ihn ständig begleiten und sich nicht mehr lösen lassen, diese Maske, die sagte: Du bist ein Niemand.
    Fünfunddreißig Jahre waren vergangen, seit er zum ersten Mal eine Maske aufgesetzt hatte, fünfunddreißig verlorene Jahre, in denen er außer ein paar Erinnerungen, viel Vergessen und Angst nichts gewonnen hatte. Aus wessen Erinnerung lebte er denn eigentlich? Aus der des Stimmenbesitzers, des letzten, der ihn nicht in Frieden ließ und ihn daran erinnerte, dass »der Mörder seine Schulden begleichen« müsse? Oder aus seinen wenigen eigenen Erinnerungen, die unmöglich im Zusammenhang mit der Erinnerung an seine Selbstfindung stehen konnten? Die Erinnerungen hingen eher mit dem Spiel zusammen, das man das Leben nennt und das sich andere für ihn ausgedacht hatten, in der Vergangenheit, in der Gegenwart. Jetzt wollte der Stimmenbesitzer auch die Zukunft für ihn erfinden und ihn als leeres Gefäß zurücklassen. Wie gern hätte er eine Vergangenheit besessen, die nur ihm gehörte und die er mit den paar schönen Momenten aus seiner Kindheit anfüllen konnte. Nur das verschwommene Bild, das ihm seit Jahren im Traume erschien, wollte er loswerden: das kleine Mädchen mit den blonden Zöpfen und den grünen Augen, das ein blaues T-Shirt trug.
    Wenn ihm etwas Schönes in den Sinn kam, dann lauerte da schon sein Bruder und nahm ihm weg, was ihm gefiel – sogar die Masken. Immer war er es, der entschied, mit welchen Masken sie spielten. Sein großer Bruder, der alle beherrschte, der Verwöhnte, dessen Tod oder Verschwinden niemand wahrhaben wollte.
    Jahrelang hatte Jussif ohne die Erwartung gelebt, dass er eines Tages an denselben Ort zurückkehren würde, an dem das Maskenspiel begann. Er schleppte sich vorwärts, kam angekrochen.Er nahm noch den uralten Rest von dem wahr, was dort einst gewesen war. Der Geruch hing ihm in der Nase und weckte die Erinnerung an längst zurückliegende Küsse, Worte, Berührungen mit den Fingerspitzen, das Nachdenken über seinen Bruder, Ablehnung, Gleichgültigkeit und Liebesverlust – alles, was die Gesichter der

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