Jussifs Gesichter
in Winkelzügen. Es war, als würde er nicht erzählen, sondern gravieren. Er legte los und kehrte zum Ausgangspunkt zurück, um erneut loszulegen. Auf diese Weise erzählte er in Kreisen, als wüsste er noch nicht oder wolle nicht wissen, wann und wo das Erzählte stattgefunden hatte. Wie es aussah, blieb er bei seinem Wort und bat Jussif, sich an seine Stelle zu versetzen. Es war, als wollte er es ihm überlassen, der Geschichte von neuem Gestalt zu geben, damit Jussif die Geschichte erzählen könne, als gehöre sie ihm, als spiele sie sich in dem Moment ab, da er sich an sie erinnerte oder sie einem anderen erzählte. Er, der dort in dem kleinen Laden Josef Karmalis oder Josef K.s hinter dem Gebäude von Arosdibbek bei ihm saß, musste nur sein Gedächtnis bemühen, seinen Geist anstrengen. Er musste sich nur vorstellen, dass er damals mit Josef Karmali oder allein gereist war.
Es war nicht schlimm, immerhin hatte die ganze Angelegenheit mit der Vorstellungskraft zu tun; das galt für alle Geschichten, die zu erfinden er sich angewöhnt hatte. Ermüdete ihn jetzt die Krankheit oder stach ihn das Alter in einem Maße, dass er seine Vorstellungskraft einbüßte? Er musste sich ein bisschen anstrengen und sein Gehirn gut durchkneten. Er musste jetzt den Ort, die Raschid-Straße, Bagdad, das ganze Land verlassen und sich gemeinsam mit Josef Karmali auf die Suche nach dem Ort und dem Zeitpunkt machen, wo und wann sich diese Geschichten ereignet hatten. In Indien? In Oman? In Marokko? In Basra? In Abu Dhabi. Ja, vielleicht. Doch warum war der Ort überhaupt von Bedeutung, da Jussif, indem er sich an die Geschichte erinnerte, Josefs Taten und Gefühle wiederholte und sich, wie er, die Geschichte erzählte? Bei ihm floss alles wie Wasser, und er selbst verlieh den Geschehnissen ihren unverwechselbaren Reiz. Er musste loslegen zuerzählen, Tropfen für Tropfen. Er musste die Geschichte auf folgende Art und Weise erzählen:
Auf den ersten Blick war alles unerträglich, alles sah zum Ersticken aus. Abu Dhabi: Die Straßen sollten in ihrer eintönigen Anordnung New York nachahmen. Sie wirkten künstlich sauber, während die Räume der Nachtclubs am Meer voll waren von Mücken und einem Gestank, der aus den Dischdaschas , Kufijas , Mündern und Ärschen der dort herumwimmelnden Kunden dampfte. In einer Ecke saß ein betrunkener Schwarzer, der den Nachtclub nicht verlassen wollte. Er bestand darauf, dort zu bleiben, und saß ganz entspannt auf seinem Stuhl. »Ich hocke da wie er«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf das Bild des Sultans an der Wand. Der Kerl hatte den Kopf zurückgelehnt, seine weiße Kufija locker nach hinten geschoben; sein Kinn reckte er hochmütig nach oben. Auf seinem Gesicht zeichneten sich Müdigkeit und der vergebliche Zorn des Wehrlosen ab, der wusste, dass er unfähig war, sich zu verteidigen, dass der Kampf entschieden sei und keiner ihm beispringen würde. Auch die anderen Gäste waren betrunken von dem in großer Menge gesoffenen Alkohol und der Nacktheit des widerwärtigen, aufgedunsenen Fleisches. Es tanzte vor ihren Augen herum, inmitten der enthüllenden Scheinwerfer, deren Erlöschen sie herbeisehnten, um zum gedämpften natürlichen Licht zurückzukehren. »Ich kenne meine Rechte, ich bin sein Landsmann. Ich habe dieselben Rechte wie dieser Macho-Sultan. Ich bin Weißer, ich bin Dichter, und ich habe eine größere Begabung zum Lachen als er. Und ich bin nicht betrunken!« So redete der Mann in gutem Hocharabisch daher. Die meisten Besucher des Nachtclubs lachten auf – er log gleich zweimal, war er doch schwarz und betrunken. In einem Nachclub erster Klasse. Man wollte ihn hinauswerfen, obwohl Schwarzen das Betreten offiziell nicht verboten war. Nur in einem Punkt war er aufrichtig: nicht was den Sultan betraf – diese Angelegenheitbetraf nur ihn, denn der Sultan war ja sein Sultan –, sondern in etwas anderem, auch wenn selbst dies nicht ganz sicher war: Er war ein Dichter, aber selbst dies war schwer zu beweisen. Er schrieb auf jeden Fetzen, den er fand, zum Beispiel auf Restaurant-und Caféservietten. Er schrieb kurze Sätze, von denen er behauptete, es seien Gedichte.
Die Szene hätte ewig so weitergehen können, wenn Josef Karmali sich nicht eingemischt hätte. Dieser saß mit drei Seemannsfreunden zusammen, von denen einer Luìs Carvahlo, der alte Portugiese, war. »Seeleute kümmern sich eigentlich nicht um die Angelegenheiten der Landratten«, erklärte Luìs
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