Jussifs Gesichter
stammte von dem portugiesischen Seemann Luìs Carvahlo, auch »der traurige Luìs« genannt, den er in einem der Cafés in Basra kennen gelernt hatte und der ihn bald in seiner Werkstatt zu besuchen pflegte. Zu Beginn lauschte Jussif noch unbeteiligt. Doch als Josef Karmali ihn eines Tages fragte, warum er nicht alles stehen und liegen lasse und ihn auf dem Dampfer seines portugiesischen Freundes begleite, fing er Feuer. Als Josef Karmali ihm kurz darauf die bevorstehende Abreise ankündigte, bat Jussif, ihn mitzunehmen. Sie vereinbarten einen Zeitpunkt; die Reise sollte zunächst nach Basra gehen. Am Tag des Aufbruchs sagte ihm Sarab jedoch, dass sie in ein anderes Haus ziehen müssten. Siehatte gesehen, wie Männer mit scharfen Gesichtszügen in Zivil das Haus beobachteten, und hielt es für besser, in ihr Elternhaus überzusiedeln, bis ihr Vater ein neues Versteck für sie gefunden hatte. Also zogen sie für ein paar Tage nach Batawain zu Onkel ’Assim und ließen das Haus zurück, das ihr Vater einst für Sarab gekauft hatte. An jenem Tag reiste Josef Karmali schließlich allein ab, nachdem er lange auf Jussif gewartet hatte.
Josef Karmali oder Josef K. war gerade fünfzig Jahre alt geworden. Er hatte weiße Haare, die ihn älter erscheinen ließen, als er war. Vielleicht erkannte Jussif, wie vergeblich sein Besuch war, wie absurd, den Freund in seine Geschichte hineinzuziehen. Er dachte daran, umzudrehen und ein andermal wiederzukommen. Aber dann fragte er sich, warum er nicht versuchen sollte, mit ihm zu sprechen. Vielleicht wäre dies die Gelegenheit für Josef, den Roman zu schreiben, von dem er oft träumte. Schließlich deutete alles darauf hin, dass Josef Karmali das Malen aufgegeben hatte. Was malte man denn in diesem Land, dem Land der Siegreichen und der Gedemütigten, überhaupt, wenn nicht Ruinen und Zerstörung?
»Es tut mir leid, dass ich dich nicht im Krankenhaus besucht habe«, sagte Josef Karmali. »Ich war im Gefängnis.«
Jussif lächelte ihn an. »Du hast vom Meer geträumt. Man sagt, du hättest das Land verlassen und wärest jetzt in Amerika.«
»Ja, so hätte es sein können«, antwortete Josef Karmali. »Aber ich bin zu einem anderen Grunde gelangt als zum Meeresgrund. Und Amerika ist meinetwegen hierhergekommen.«
»Ausgerechnet du musstest in diesem Loch, dem Knast, enden, vor dem du dich so gefürchtet hast«, fügte Jussif hinzu.
Jussif erinnerte sich, wie Josef bei ihrer zweiten Begegnung erklärte, es sei besser, ihm eine »kopierte« Identität zu verleihen(er benutzte dieses Wort statt »gefälscht«). Es sei falsch, die Dinge dem Zufall zu überlassen. Er gab dazu gern eine Anekdote über Napoleon Bonaparte zum Besten, in der dieser mit seinen Offizierskameraden in der Offiziersschule Karten spielt und immer gewinnt. Auf die Frage nach seinem Geheimnis erklärt er seinen Kameraden, sie müssten von selbst darauf kommen. Und tatsächlich ertappen sie ihn eines Tages beim Schummeln: Er hat eine gezinkte Karte im Ärmel. Als sie ihn fragen, wie er es fertigbringe, seine Kameraden und Freunde zu betrügen, antwortet er, dass er sie nicht betrüge, sondern ihnen für ihr Leben die Lektion erteilen wolle, dass niemand zufällig gewinne.
»Ich schummle zwar nicht, aber ich spiele. Du musst besser spielen als die anderen, damit du nicht wie ich in diesem Loch endest, wo du dich in eine Kakerlake verwandelst, wie unser großer Freund Dostojewski es ausdrückt.«
»Du hast gesagt, es gebe keinen Zufall«, erwiderte Jussif.
»Ja«, fügte Josef bitter hinzu. »Und ich sage es immer noch. Wer den Zufall in Schicksal umschmieden will, der muss auch den Preis bezahlen.«
Jussif fragte sich, ob Josef Karmalis Worte auch auf ihn zuträfen, ob auch er jetzt dem Zufall ein Schnippchen schlage. Ob die Reise, die er seit der Morgendämmerung der zweiten Aprilwoche angetreten habe, nur ein Versuch gewesen war, den Zufall in Schicksal zu verwandeln, aus dem es kein Entrinnen mehr gab?
Bevor er Josef etwas fragen konnte, fuhr dieser schon fort: »Ich weiß, dass wir alle beide eine Geschichte zu erzählen haben. Deshalb bist du ja hier. Aber bevor du loslegst, bitte ich dich, dir meine Geschichte anzuhören. Und damit du sie gut verstehst, musst du dich zu mir setzen.«
Dann begann Josef Karmali oder Josef K., die Geschichte zu erzählen, die Jussif einst von ihm gehört hatte oder gehört zuhaben meinte. Sicher war, dass Josef Karmali seine Geschichten nie geradlinig erzählte, sondern
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