Jussifs Gesichter
Banden wie »Der schwarze Kater« wie Phantome durch die Straßen gestrichen; zu anderen Zeiten hatten andere Verbrecherbanden – manchmal zusammen – die Menschen terrorisiert: »Der rote Wolf«, »Das trügerische Gespenst«, »Der Mann mitder schwarzen Axt«, »Der schwarze Turban«, »Väterchen Axt« und viele andere, die er vergessen hatte. Jahrelang musste die Bevölkerung neben den Kriegszerstörungen, der Einsamkeit und weiteren Übeln auch noch die Qualen durch die Phantome ertragen, die des Nachts mit Messern und Dolchen, Äxten und Feuerwaffen, hin und wieder bloß mit kaltblütigen Würgehänden ein Grauen unter den Menschen verbreiteten. Vor fünfunddreißig Jahren lief der Film »Das Phantom« in den Kinos, und immer noch hatte die Stadt sich nicht von ihren Phantomen verabschiedet. Er wusste nicht, ob auch die anderen Bewohner der Stadt die Maske und die Brille aufbewahrt hatten wie er.
Er ging zum Schalter des Häuschens für den Kartenverkauf und stellte sich vor, der dort sitzende Mann verrichte seine tägliche Arbeit wie ein Phantom. Er nahm die Eintrittskarte entgegen und bezahlte, während der Mann ihm mit der Hand den Eingang zum Kinosaal zeigte.
Er betrat den Saal. Als die Lichter im Saal ausgingen und der Film begann, musste er sich sehr anstrengen, der Handlung zu folgen.
Er wusste, dass er sich seit der Kindheit, seit dem Tod des kleinen Mädchens mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt, daran gewöhnt hatte, die Rolle zweier Personen zu spielen: die des Jussif Mani, der er tatsächlich war, und die des anderen Jussif, der er gern gewesen wäre. Es war, als sei er sein Leben lang zweigeteilt gewesen: einer, der erzählt, und einer, der sich erinnert; einer, der spricht, und einer, der zuhört. Sobald er anfing, etwas zu tun, sprach er mit sich selbst. Beispielsweise sagte er: »Da kommt er aus der Schule und macht sich auf den Heimweg. Er kommt am Laden Onkel Abu Halimas vorbei und an den Lagern für den Holzverkauf. Er wird dem Sajjid, dem edlen Herrn Kadhim dieHand geben, aber nicht die ihm gereichte Hand küssen.« Oder: »Da ist er mit seiner Mutter auf dem Weg zu einem Besuch bei seiner Tante. Er freut sich darauf, seinen Vetter zu sehen. Sie werden zusammen mit den Tauben spielen. Er weiß nämlich eine Menge über die Kunst, die Tauben davonfliegen und zurückkehren zu lassen.« Oder: »Da arbeitet er in den Sommerferien im Laden Muhammad Dizfulis. Er wird sich meist im Lager des Ladens herumdrücken, um irgendetwas aufzuräumen. Er wird auch vom Trockenobst stehlen, doch nicht, um es sich einzuverleiben, nein, er ist ja ein zuverlässiger Mensch. Er wird es für seinen großen Bruder stehlen. Und wenn dieser ein wenig Mitleid mit ihm hat, wird er ihm eine Kleinigkeit abgeben.« Oder: »Da stöbert er in der Schublade seiner Mutter herum. Und wenn er nichts findet, wird er an den Kleiderschrank gehen und zwischen den Kleidern nach Kleingeld suchen. Und wenn er wieder nichts findet, wird er in den Mehlsack schauen und dort das Geld vorsichtig herausklauben, wenn er es findet. Er weiß nämlich, dass seine Mutter das Kleingeld manchmal dort versteckt, weil sie will, dass der Dieb eine Mehlspur hinterlässt, die nicht leicht zu entfernen ist. Aber Jussif ist mit der Zeit immer geschickter darin geworden, seine Mutter zu bestehlen. Nicht etwa, weil er ein Dieb ist, sondern weil sein großer Bruder Junis von ihm verlangt, seine Mutter zu beklauen, und ihm beigebracht hat, die Spuren zu verwischen. Wenn die Mutter den Dieb auf frischer Tat ertappt, kann er nicht vorgeben, sein großer Bruder habe ihm dieses Handeln aufgezwungen. Erstens würde sie ihm nicht glauben, und zweitens würde sein Bruder ihn im Falle eines solchen Geständnisses verprügeln. Also wird er schweigen.« Oder: »Da sitzt er am Abend im Park in der Nähe seiner Schule. Er sitzt allein dort und schaut um sich. Er sieht nur die einander ähnelnden Menschen, die schnell vorbeihuschen, als seien sie auf der Flucht vor ihren Ebenbildern. Sie reden mit lauten Stimmen, geben nur leeresGeschwätz von sich. Ihre Gesichter haben nichts an sich, was Neugier erregen könnte. Wie könnte es auch anders sein, da sie alle von einer Sorte sind. Es hat keinen Sinn, einen vom anderen zu unterscheiden: die Gesichter seiner Familie, die Gesichter von Verwandten und Fremden, entfernte Gesichter und andere, nahe. Wenn ihn das Betrachten der Gesichter ermüdet, fragt er sich, warum er nicht einmal
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