Jussifs Gesichter
dass sie es waren, die man verhaftete, dass sie am Schreibtisch eines vorherigen Opfers saßen. Oder bevor sie sich selbst in die Henker und Schlächter verwandelten, die ihre Opfer erbarmungslos zur Schlachtbank führten und vergaßen, dass sie in naher Zukunft per Steckbrief gesucht würden.
»Und wie war deine Reise, Jussif?«
Wie sehr hatte er mit dieser Frage gerechnet!
»Meine Reise beginnt jetzt. Ich habe mich entschieden, das Haus zu verlassen. Ich versuche, meine Identität und meinen Namen wiederzuerlangen.«
Er fragte sich, ob Josef Karmali ihm die Geschichte des Stimmenbesitzers abnehmen würde. Es war zwecklos, ihm seine Erlebnisse mitzuteilen. Dann müsste er sich von dem Gedanken verabschieden, der ihm gerade durch den Kopf gegangen war: Wie konnte er sich in diesen Tagen (wie die meisten seiner Landsleute) einen neuen Ausweis auf einen neuen Namen besorgen?
»Wir sind Freunde, Jussif. Du kannst mir alles erzählen, was du willst.«
Die Stimme seines Freundes drang warm und herzlich an sein Ohr.
»Ich weiß«, fuhr er fort. »Das hat mich zu dir gebracht. Ich wollte dich bitten, die alte Bar aufzusuchen. Weißt du noch? Die geheime Bar, die Mekka-Bar, wie du sie nennst, die Bar der Geschichten. Wolltest du nicht einen Roman über sie schreiben?«
»Ja, das habe ich vor.«
Jussif schloss kurz die Augen, als wollte er ein Schwächegefühl vertreiben. Von der Seite vernahm er die Stimme seines Freundes: »Weißt du was, Jussif? Jetzt entdecken alle meine Begabung. Alle, die von der alten Garde wie die von der neuen Garde. Alle brauchen neue Papiere. Kannst du dir vorstellen, wie viel Geld sie dafür hinblättern würden? Manche verlangen, dass ich ihnen eine Greencard ausstelle. Ich kann mich nicht beklagen, ich verdiene viel Geld. Die Mächtigen hier fordern Bücher, leere Bücher. Sie wollen nur die Einbände, mit berühmten Titeln drauf. Hast du das Schild an der Eingangstür bemerkt?«
Jussif wandte den Kopf in die Richtung, in die Josef Karmali oder Josef K. gedeutet hatte. Tatsächlich fiel ihm jetzt ein massives Schild auf, auf dem in großen Buchstaben stand:
BUCHHANDLUNG FÜR SELTENE BÜCHER. Als er seinen Blick wieder auf Josef richten wollte, sah er auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes die zwei Männer. Es sah aus, als warteten die beiden auf ihn.
»Jussif, sag mir die Wahrheit«, hörte er Josef Karmali oder Josef K. fragen. »Brauchst du neue Papiere? Wir sind Freunde. Du weißt, dass ich für dich alles tun würde.«
»Wie’s aussieht, brauche ich keine neuen Papiere, sondern ein neues Gesicht.«
Bevor sein Freund noch etwas hinzufügen konnte, entschied sich Jussif, rasch aufzustehen und den Laden zu verlassen.Aber er besann sich eines Besseren und suchte mit den Augen nach dem Schild, auf dem er den Namen entdeckte: Harun Wali .
»Harun Wali hatte eine noch stärkere Neigung zu erzählen als wir. Erinnerst du dich nicht? Auf den Spuren unseres Freundes, den wir in Prag allein vor dem Gericht stehen ließen, nannte er mich Josef K. Weißt du noch? ›Am Ende sind wir Wesen, die einander etwas erzählen. Wir kopieren einander, einen nach dem anderen‹, wie er zu verkünden pflegte.«
Nach kurzer Pause fuhr er fort: »Niemand weiß, was zwischen uns vorgefallen ist. Merk dir das: Ab sofort bin ich Harun Wali, der Schriftsteller.«
Jussif nickte mit dem Kopf. Er musste ihm glauben. Harun Wali, seinem Freund. Aber für ihn war es besser, das alte Spiel mit den Namensänderungen nicht wieder aufzunehmen.
Er starrte eine Weile ins Leere. Dann fiel ihm ihre letzte Begegnung ein, als er eben diesen Ausweis hiergelassen hatte, den Ausweis Harun Walis.
»Dann erwarte ich dich, lieber Harun, in der Bar, an die du dich sicher erinnerst: in der geheimen Bar, der Mekka-Bar!«
Darauf nahm er seinen kleinen Koffer vom Boden auf und ging ebenso hinaus, wie er hereingekommen war: wie ein flüchtiges Phantom.
Sechstes Kapitel
Ein Streifzug durch die Chajjam-Straße:
als wäre man im Kino
Als Jussif an die Kreuzung Raschid-Straße/Chajjam-Straße gelangte, fühlte er die Maske in seiner Hosentasche. Statt seinen Weg in Richtung Sa’adun-Straße fortzusetzen, wechselte er auf die andere Straßenseite und bog nach links ein. Er war glücklich, als habe er seinen alten Namen, an den er in Kindheit und Jugend gekettet war, für immer abgelegt, bevor er vor vielen Jahren den Laden seines altes Freundes, Josef Karmalis, aufgesucht und ihn gebeten hatte, ihm gefälschte Papiere
Weitere Kostenlose Bücher