Jussifs Gesichter
der Gedemütigten überhaupt jemals einen Frieden gab! Man konnte sich natürlich auch der täglichen Routine unterwerfen, im Haus oder bei der Arbeit. Seine Tages-»Reise« hatte sich irgendwann auf eine einzige Strecke verkürzt, auf zehn oder zwanzig Meter pro Tag. Er errechnete nicht die tägliche Distanz, um vom Haus bis zum Arbeitsplatz und wieder zurück zu gelangen. Er glaubte nicht, dass sich auch nur einer seiner Kollegen von ihm unterschied. Sie, die kleinen Angestellten dort, glichen alle Schachfiguren, ausgelaugten Knechten, die sich nur wie aufgezogen bewegten, ohne Geist. Bei all seinen Ortswechseln – und da war er nicht der Einzige – war kein Unterschied zwischen dieser oder jener Arbeit zu bemerken. Wichtig war nur, dass er von einer Stadt zur anderen hetzte, um seinen Verfolgern zu entfliehen und weit weg zu sein von Sarab, der er nicht mehr unter die Augen zu treten wagte. Immer wieder lebte er unter neuen Namen an einem anderen Ort, einem fürs Büro, einem fürs Hotel, in dem er wohnte. Und im Büro war es ihm gleichgültig, was er zu tun hatte, es musste nur eine staatliche Behörde sein, mit einem Zimmer, einem Tisch, Ordnern und Besuchern. Je mehr Besucher, desto besser. Je weiter die Stadt von Bagdad entfernt war, desto sicherer fühlte er sich. Er glaubte nicht, dass er der Einzige war, der so handelte. Er beobachtete die anderen um sich her, Bataillone von Angestellten, leere, geistlose Gefäße, deren Intelligenz von der der Verrückten in der Nervenheilanstalt noch übertroffen wurde. Ja, sogar die Ameisen waren flinker als sie. Sie waren ... Was waren sie? Er war außerstande, eine passende Bezeichnung für sie zu finden. Sie wirkten wie weggeschmissen,wie ein Haufen Abfall, wie ein brüchiges Möbelstück, das keiner mehr haben will, das niemandem etwas bedeutet. Jussif fiel ein, dass er zu Beginn und zum Ende dessen, was Josef Karmali oder Josef K. als »Reise« bezeichnete, die Versetzung oder das Verschwinden eines Kollegen gar nicht bemerkte. Es gab keinen Abschied. Es gab keine Vertraulichkeiten, weder vor noch nach dem Verschwinden eines der ihren. Es war, als weckten Vertraulichkeiten Argwohn: Vertraulichkeiten mussten verfolgt werden. Ihre Augen sahen nichts als Akten, nichts als »Die Reise zwischen den Akten« und ihre Rückkehr. Wie festgenagelt waren sie an ihren Schreibtischen. An manchen Tagen saßen sie acht Stunden oder mehr dort, je nach der offiziellen Arbeitszeit. Sie hoben ihre Augen nicht von den Schriftstücken, es sei denn, sie hörten Schritte. Manchmal machten sie nicht einmal das, sondern schauten nur auf, wenn sie ihren Namen hörten oder wenn sich ein Schatten auf ihren Tisch legte. Wenn von Zeit zu Zeit die Sicherheitspolizei, der Nachrichtendienst, der Geheimdienst, der besondere Sicherheitsdienst oder oder oder kam (die genaue Zahl der Dienste ist kaum angemessen wiederzugeben), nahmen sie ihre Opfer ohne Grund und erbarmungslos fest. Und doch arbeiteten die Angestellten eifrig weiter, als habe sich nichts ereignet, als leere sich das Zimmer nicht langsam. Es geschah mehr als einmal, dass Jussif von seinem in ein völlig leeres Büro wechselte, weil sein Vorgänger mitsamt Mitarbeitern verschwunden oder verhaftet oder unter dem Vorwurf des Verrats hingerichtet worden war. Wann immer er sich an einen neuen Schreibtisch setzte, sagte er sich: »Ich sitze am Arbeitsplatz eines ehemaligen oder eines zukünftigen Opfers, das ich selbst sein werde.«
»Wie’s aussieht, erfreust du dich guter Gesundheit, Jussif, und hast dich all die Jahre einigermaßen durchgemogelt«, drang es wie von weit her in Jussifs Ohr.
Er lächelte und stellte sich vor, an der Werkbank seines Gegenübers zu sitzen und Bücher zu binden, leere Bücher.
Ein Opfer, das bei guter Gesundheit war. Er erinnerte sich an den Hammel, den seine Mutter für das große Opferfest zu kaufen pflegte. Damals fragte er sich mit kindlichem Mitgefühl, wie die Menschen Monate vor dem Opferfest ein Lamm kaufen und so lange mästen konnten, bis sie es als dicken Hammel am Opferfest schlachteten. Jussif weinte damals sehr. Aber sicher war er nicht das einzige Kind, das seinen Hammelfreund beklagte, mit dem es monatelang gespielt hatte. All seine kleinen Freunde machten es. Es war, als spürten sie, dass eigentlich sie zur Schlachtbank geführt wurden. Aber das war lange, bevor diese Kinder erwachsen wurden, bevor sie sich in die kleinen Angestellten dieser Gesellschaft verwandelten, die nicht spürten,
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