Jussifs Gesichter
niemanden. Alles an ihm ist gewaltig. Seine Schuhe gleichen Militärstiefeln, auf seinem Kopf sitzt ein riesiger Hut. Sogar die Zigarre, die ständig in einem Mundwinkel hängt, ist sehr lang. Das Phantom wandert und wandert. Reihum geht es in sämtliche Häuser der Stadt. Sobald es ein Haus verlässt, holt es aus seiner Hosentasche ein kleines Heft und streicht einen Namen. Dann begibt es sich in ein neues Haus. Das Phantom betritt die Häuser ganz natürlich, nicht wie ein Dieb oder ein Verbrecher. Nein, es betritt ein Haus, als kenne es den Bewohner seit langem. Nur der Schlafende im Haus verhält sich unnatürlich, schreckt hoch, setzt sich halb auf und fängt an, weiter und weiter zurückzurutschen, bis er in sich zusammenschrumpft. Den Rücken presst er an die Lehne des Bettes, seine Augäpfel quellen hervor, nicht weil der Besucher ihn überrascht, sondern aus Angst, dieser könne Forderungen an ihn haben und ihn bedrohen. In diesem Moment zieht das Phantom ein Heft aus der Hosentasche undkritzelt etwas hinein. Außer dem Mann im Bett sieht niemand sein Gesicht. Und obwohl seine Angst immer heftiger wird, scheint er dem ungebetenen Gast andächtig zu lauschen. Dieser redet nicht viel. Es spricht mit heiserer, schwer verständlicher Stimme, liest aber nur die Worte vor, die es gerade erst zu Papier gebracht hat. Als der Mann im Bett die Hand nach dem Zettel ausstreckt, schwenkt die Kamera zum Blatt und zeigt die darauf stehenden Worte in Leinwandbreite. Jussif liest sie von seinem Sessel im Kinosaal aus: »Du musst vierundzwanzig Stunden wach bleiben und den Besitzer des nächsten Hauses beobachten, deinen Nachbarn. Er behauptet, ihm werde ein Unglück zustoßen, das ihn lähmen und der Krankheit des Vergessens anheimfallen lassen werde. Beobachte ihn genau und berichte mir, ob er gelogen hat. Schreib alles auf, was er unternimmt, und schicke es zu der Stunde ab, die unten neben der Adresse angegeben ist.« Nur der letzte Satz, der Stunde und Adresse betraf, war kaum leserlich und wurde wohl deshalb, anders als der Rest, nicht übersetzt. Vielleicht war es auch nur ein dramaturgischer Kniff, um die Spannung zu steigern. Daraufhin geht das Phantom hinaus. Es zieht durch die Häuser, betritt sie eines nach dem anderen, als gäbe es in dieser Stadt unendlich viele Häuser. Tagsüber gehen die Menschen ihrer Arbeit nach, als sei nichts geschehen. Sie sprechen knapp, aufs Geratewohl, aber über alles Mögliche. Nur die nächtlichen Besuche des gewaltigen Phantoms und die Krankheit des Vergessens, unter der anscheinend alle leiden, erwähnen sie nicht. Nach dem Besuch des Phantoms beginnen die Menschen ausführliche Berichte über ihre Nachbarn oder Arbeitskollegen zu verfassen. Dann machen sie sich zur festgesetzten Stunde auf den Weg zur angegebenen Adresse am Rand der Stadt, finden dort eine hohe Mauer und ein riesiges Gebäude und schieben den Bericht unter dem Tor hindurch. So gehorcht jeder dem Befehl, ohne das Gespenst des Besuchers zu bemerken, das sieauf jener täglichen Reise begleitet. Am Abend, wenige Stunden vor Sonnenuntergang, streifen schwarz gekleidete Männer, deren Gesichter den Ausdruck von Totengräbern haben, durch die Stadt, von Haus zu Haus, und führen Menschen zu dem gewaltigen Tor. Mit der Zeit wiederholt sich diese Szene. So geht es viele Jahre, bis die Menschen alt und schwach werden und immer mehr vergessen. Sie bringen Kinder zur Welt, die ihnen Enkel schenken. Nur das Phantom altert nicht. Es wird auch nie müde. Kein Hindernis, keine noch so große Erschöpfung kann es von seinem Tun abhalten. Die Stadt wächst, und mit ihr die Wege des Phantoms. Es besucht mehr und mehr Menschen und verbreitet das Vergessen wie eine Seuche. Selbst wenn sie in andere Städte reisen, gleich ob für die Arbeit oder um Verwandte zu besuchen, vergisst das Phantom nicht, bei ihnen zu erscheinen. Und sie, die Menschen, gehorchen ihm mit sichtbarer Angst oder Unwillen. Aber nur am Anfang. Nach Verrichtung ihrer ersten, spätestens nach ihrer zweiten Aufgabe vollenden sie ihre Arbeit allein und werden traurig, wenn das Phantom auf sich warten lässt. Es ist, als sei es ihre einzige verbleibende Erinnerung, die ihnen bewusst macht, dass sie einer Tätigkeit nachgehen. Je mehr die Stadt im Laufe der Zeit wächst und je zahlreicher die kleinen Ortschaften an ihren Rändern entstehen, desto weiter dehnt sich auch der Friedhof inmitten der nahe gelegenen Palmenhaine aus. Mit der Zeit befiehlt das Phantom den
Weitere Kostenlose Bücher