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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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Menschen, nur noch Knaben zu gebären. Mädchen sollen nur noch bei Bedarf zur Welt kommen. Und die Menschen gehorchen. So gerät mit der Zeit alles durcheinander. Es wird unmöglich, zwischen den Nachbarn zu unterscheiden. Es ist, als herrsche in der Stadt ein bestimmter Menschentyp vor, dem sich alle angeglichen haben. Da sagt das Phantom, dass es zufrieden sei, weil sie anfangen, ihm zu ähneln. Und das Phantom verkündet mit lauter Stimme: »Jetzt dürft ihr mein Gesicht sehen!«
    Jussif gab sich große Mühe, dem Film weiter zu folgen. Er begann, sich auf einen alten Mann zu konzentrieren, der in einem kleinen Garten am Abhang eines Berges sitzt und in ein weites Tal hinunterschaut, in dem die Lichter einer großen Stadt funkeln. Der Alte sitzt in einer Schar von Kindern, denen er erzählt: »Dies ist die Geschichte des Phantoms, Kinder. Es ist ein starker Mann, dessen Gedächtnis mit dem Vergessen der Menschen gespeist wird.« Der Alte weist mit der Hand auf die Kinder und fügt hinzu: »Wir müssen hinabsteigen und sie von dem Phantom befreien. Er holt einen Beutel hervor, den er auf der Brust trägt, entnimmt ihm eine kleine Maske und eine Brille und fordert die Kinder auf, sich beides aufzusetzen. Nur mit diesem Mittel, so sagt er, würden sie das Phantom sehen und ergreifen können.
    Jussif nahm die kleine mit einer Brille versehene violette Maske aus der Hosentasche und setzte sie aufs Gesicht. Auf diese Weise sah er den zweiten Film in Farbe:
    Er sah eine Gruppe von einundzwanzig Personen, die den Plan ausgeheckt hatte, ein großes Juweliergeschäft zu überfallen. Sie erreichen ihr Ziel und betreten ein Gebäude – nicht ahnend, dass sie in eine Falle tappen und die Polizei sie schon erwartet. Alles, was sie geplant hatten, ist auf einmal verspielt; jeder will die eigene Haut retten. Nach einem erbitterten Kampf mit den verschiedensten Waffen gelingt es den Dieben, einige Polizisten zu töten und zu fliehen. Jeder geht seines Weges, und jeder glaubt, einer der anderen sei der Verräter. Wie konnte die Polizei von der Sache Wind bekommen, wenn sie nicht einer von ihnen verraten hat? Und der Verräter muss gefunden werden. Sie konnten sich zwar des Angriffs der Polizei erwehren. Aber jeder verdächtigt jeden. Und nicht nur das. Jeder beginnt, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Jeder Mensch nimmt auf einmal die Züge des Verräters an: der vertraute Freund, die Ehefrau, die Geliebte, der Schankwirt, der Händler im Gemüseladenan der Straßenecke, die Hure, der Wächter des Hauses, der Priester in der Kirche, der Rechtsanwalt. Eine entsetzliche Hilflosigkeit überfällt die Bande. Der Goldschatz, den sie ergattern wollten und von dem sie alle träumten, verwandelt sich in einen schrecklichen Albtraum. Der Diebstahl wird zu einer Reise ins Ungewisse: zwischen der Verdächtigung durch die Polizei und dem Gefühl, einen Verräter in ihrer Mitte zu haben. Die Polizei ist ihnen von Stadt zu Stadt auf den Fersen, von Hotel zu Hotel. Und sie verfolgen einander, drehen sich in einem geschlossen Kreis ohne Eingang und Ausgang. Sie schlafen mit offenen Augen, vergessen, was Tag, was Nacht ist. Ihre Gesichter altern vor der Zeit, das Lächeln gerinnt zu einer fernen Erinnerung. Ihre Gefühle erstarren in Leichenkälte. Die Erinnerung verengt sich auf einen Augenblick, beherrscht vom Revolver oder dem Messer in der Hosentasche. Sie können nicht mehr unterscheiden, wer wen tötet, wer wem nachstellt. Wer ist der Mörder, wer der Ermordete? Mit der Zeit breiten sich Bosheit und Schadenfreude aus wie eine ansteckende Krankheit, wie eine Seuche. Nicht in dem von ihnen bewohnten Viertel, auch nicht in der Stadt, in der sie alle leben, sondern in allen Städten, auf allen Plätzen, wohin ihre Füße sie tragen. Wo auch immer sie Halt machen, überall schnappt die Falle zu, herrschen Unheil, Mord und Verrat, gibt es Tod und Zerstörung.
    Da entdeckte Jussif von seinem Platz aus einen alten Mann, der in einem kleinen Garten hockt und in ein weites Tal hinabschaut, in dem die Lichter einer großen Stadt funkeln. Der Alte sitzt inmitten einer Schar von Kindern, denen er sagt: »Wir müssen hinabsteigen und sie retten.«
    Er holt einen Beutel hervor, den er auf der Brust trägt, entnimmt ihm eine kleine Maske und eine veilchenfarbene Brille und fordert die Kinder auf, sich beides aufzusetzen. Nur mit diesem Mittel, so sagt er, würden sie das Phantom sehen und ergreifen können.
    Jussif erinnerte sich, dass er schon immer am

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