Jussifs Gesichter
mit einem neuen Namen zu verschaffen. Einerlei, welchen Namen ihm sein alter Freund – Josef Karmali, Josef K. oder »Harun Wali«, wie er es jetzt wollte – verpasste, er würde ihm immer dankbar sein. Denn indem Josef Karmali seinen ursprünglichen Namen, Jussif, annahm, half er ihm, sich seiner selbst noch mehr zu nähern. Und je größer der Abstand zu seinem ursprünglichen Namen wurde, desto inniger verschmolz er mit dem neuen Jussif Mani.
Jussif spürte eine plötzliche Welle der Freude in sich aufsteigen. Sein Herz schlug heftiger, und er beschleunigte seine Schritte. Es war, als wolle er so schnell wie möglich ankommen. Dieses Gefühl machte ihn froh, weil er sich zum ersten Mal bewusst wurde, dass er nicht mehr der alte Jussif Mani war. Er nahm die Dinge mit anderen Augen wahr und konnte sich an ihnen freuen. Er war glücklich, seine Erinnerung Stückfür Stück zurückzugewinnen, mehr und mehr zu sich selbst zu finden. Als er den Eingang des Chajjam -Kinos erreichte, drängte diesmal alles mit Macht in sein Gedächtnis. ›Es ist vier Uhr nachmittags, und die Klingel läutet den Beginn der Filmvorführung ein‹, sagte er sich. ›Wir schieben uns mit anderen Menschen zum Kinoeingang. Und wieder gelingt es uns nicht, eine Eintrittskarte zu ergattern.‹
Er war sich bewusst, dass er mit seinem Bruder und seinem Vetter mehrmals zu diesem Kino gekommen war. Jedes Mal kämpften sie voller Mühe um Eintrittskarten für die Filmvorführung. Sie waren nicht die Einzigen. Menschenmassen aller Altersgruppen strömten aus allen Ecken und Winkeln der Stadt herbei, um den Film zu sehen. Manchmal verstopften sogar mit Kinobesuchern beladene Kleinbusse den Eingang der kleinen Chajjam-Straße. Dies hatte es nie zuvor gegeben. Der von indischen Filmen bekannte Andrang war mit diesem Ansturm nicht zu vergleichen. Der Film war schon Monate lang auf dem Spielplan. Viele Menschen hatten den Film mehrmals gesehen und die dazu gehörige 3-D-Maske erworben.
Nie zuvor hatte die Stadt eine solche Erfahrung gemacht. Es gab weder die geeigneten Marktschreier noch die Händler, die sich auf den Verkauf der Masken verstanden. Er hatte keine Ahnung, wie der Kinobesitzer auf diese Idee gekommen war, hätte ihn aber liebend gern danach gefragt. Beim Kauf von Eintrittskarten erhielten die Zuschauer kleine Masken mit bunten Brillen dazu. So wimmelten damals Tausende von Masken durch alle Gassen. Wo auch immer man hinging, sah man diese Masken auf den Gesichtern der Menschen: auf den Gesichtern von Studenten und Schülern jeden Alters, auf den Gesichtern von Lehrern, Lehrerinnen und Kindern, auf den Gesichtern von Angestellten und Arbeitern, auf den Gesichtern der Polizei, der fliegenden Händler und der Ladenbesitzer, auf den Gesichtern von Hotel-, Restaurant-und Barbesitzern,auf den Gesichtern der Barbesucher und der Imame und Scheichs der Moscheen, auf den Gesichtern der Besucher von Musa al-Kadhim und des großen Imam Abu Chanifa, auf den Gesichtern der Nachrichtensprecher und Programmansager, auf den Gesichtern der Soldaten, deren Kasernen in der Stadt lagen, und derer, die sie zu ihren Einheiten in andere Städte mitnehmen würden, auf den Gesichtern von Taxi-und Omnibusfahrern, von Ärzten und Huren, auf den Gesichtern der Sicherheits-, der Presse-und Propagandaleute, auf den Gesichtern der Schreiber von Gesuchen und der Bettler, auf den Gesichtern von Kupplern und Dichtern, auf den Gesichtern von Mördern, von Radio-und Fernsehsängern, auf Gesichtern von Menschen, an die er sich jetzt nicht mehr erinnerte, vergessene Gesichter, die ihn ebenso vergessen hatten, und schließlich auf seinem eigenen Gesicht und auf dem seines Bruders.
Es war jetzt sinnlos zu fragen, ob dies alles wirklich geschehen war oder ob es sich nur um eine seiner Einbildungen handelte. Sah er die Menschen Masken tragen, weil er selber eine Maske trug? War dies nicht der wahre Grund, weshalb die ganze Stadt sich in eine Phantomstadt verwandelte – ganz nach dem Titel des Films »Das Phantom«?
Übertrug er dieses Bild auf die Stadt, als er sie später betrachtete? Oder war sie wirklich eine Phantomstadt, deren Bewohnern man die Verwandlung in Phantome nicht mehr befehlen musste, so wie es sich einige Jahre später mit dem Phantomfilm und danach mit anderen Geschichten ereignete?
Er blieb vor den Plakaten des heute gezeigten Films stehen und dachte über die Phantome nach, die die Stadt schon in Angst und Schrecken versetzt hatten. Viele Jahre waren
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