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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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liebsten allein ins Kino gegangen war. Es war schwierig gewesen, Sarab zu erklären, warum; sie dachte, er treffe eine Freundin. Aber er hatte geantwortet, dass das Kino kein Schlafzimmer sei, sondern ein Ort der Einbildungskraft. Sobald er das Kino betrat und auf seinem Sessel Platz nahm, sobald die Lichter gelöscht wurden, wechselte er in eine andere Welt über. Er konnte stundenlang dort sitzen; oft wusste er gar nicht genau, welchen Film er sah, weil er stets von dem Film auf der Leinwand seines inneren Auges gefangen war.
    Vielleicht erzählte er ihr das, weil er sich nach wie vor an den Besuch des Films »Das Phantom« erinnerte. Damals, er war noch ein Knabe, half ihm dieser Film, eine Distanz zu seiner Seele aufzubauen und mit seiner Situation zurechtzukommen, in der er zwischen dem Jussif, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war, und dem Jussif, der sich danach sehnte, ein anderer zu sein – nicht der des Mordes angeklagte junge Mann –, zerrissen wurde. Wenn er jetzt darüber nachdachte, konnte er sich keinen anderen Grund vorstellen. Er war sicher nicht das einzige Kind, das sich freute, eine Maske und eine Brille zu erhalten. All seinen Spielkameraden erging es so. Ja, die ganze Stadt taumelte im Masken-und Brillenfieber. Wenn er jetzt nach langer Zeit auf die damaligen Geschehnisse zurückblickte, wurde ihm bewusst, dass die Worte, die er später mit Sarab wechselte, richtig waren. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Kinder und Erwachsene diese Masken unbedingt tragen wollten, weil ihnen der Phantomfilm so gut gefiel. Wenn sie den Film aus der sie von der Leinwand trennenden Entfernung betrachteten, wurden sie von dem Gefühl überwältigt, dass Maske und Brille eine unsichtbare Trennlinie zwischen Einbildungskraft und Film, zwischen Auge und Leinwand zogen. Josef Karmali oder Josef K. pflegte zu sagen: »Nicht der Vorfall oder der Zeitpunkt ist wichtig, sondern alles,was mit dem Geschehen zu tun hat.« Es war also nicht verwunderlich, dass der Phantomfilm die gesamte Stadt in seinen Bann zog und in eine Stadt der Phantome verwandelte. Die Menschen trugen Maske und Brille tagelang, bis die Masken mit den Gesichtern zusammenwuchsen und die Pappstücke nach und nach abfielen, nachdem sie Teil des Gesichts geworden waren. Die Menschen wollten vergessen, und die Masken boten ihnen die Gelegenheit, als Phantome Gestalt anzunehmen. Auch sein großer Bruder gab sich zu Hause weiterhin dieser Maskerade hin, erinnerte sich Jussif.
    Nachts kam Junis, sein großer Bruder, zu ihm; er trug einen großen Hut auf dem Kopf, den er aus dem einzigen Hutgeschäft am Bab Scharqi gestohlen hatte. Über die Hände hatte er grobe schwarze Handschuhe gezogen, im Mund hing eine Zigarre. Woher hatte er die? Er ahmte das Phantom nach. Schließlich stand er sogar an seinem Kopfende, holte ein kleines Heft und einen großen Stift hervor und diktierte ihm seinen Wunsch: Er sollte seinen Vetter Karim beobachten, der sie manchmal mit einem Taubenschwarm besuchte. Er sollte herausfinden, wie viele Tauben er besaß und einige davon entwenden. Am nächsten Tag sollte er sie zum Taubenmarkt bringen, damit sein Bruder, »das Phantom«, sie verkaufen könne. Auch seine Mutter sollte er überwachen und herausfinden, wo sie ihr Kleingeld versteckte, um einen Diebstahl zu erleichtern. Dann sollte er auf die Straße gehen und die frommen Männer belauern, die sich aus der nahe gelegenen Hussainija-Moschee in den Laden Tumas stahlen, um Arrak zu kaufen. Auch die Frauen, die nachts heimlich in den Straßen unterwegs waren, sollte er verfolgen. Dies war die schwerste Aufgabe. Es bedeutete, dass er nachts lange wach bleiben und sein Gesicht an die Fensterstäbe heften musste, um die Straße zu beobachten. Er musste sich sehr anstrengen, um ein Gesicht zu erkennen.
    Wenn er seinem Bruder das Geld aushändigte oder dieListe der religiösen Männer oder der Frauen gab, die nachts heimlich in den Straßen unterwegs waren, benahm Junis sich so, als höre er zum ersten Mal von der Sache. Wenn er ihn fragte, warum er ihm in der Nacht zuvor diesen oder jenen Auftrag gegeben habe, erwiderte Junis, er wisse von nichts. ›Ja‹, sagte Jussif dann, ›es muss wohl ein dir ähnelndes Phantom gewesen sein.‹ Sein Bruder verprügelte ihn, machte ihm Vorwürfe und schrie, dass er ein solches Gerede nie wieder hören wolle. Geld und Namenslisten aber nahm er an sich. Diese Posse trieb sein Bruder, das Phantom, lange mit ihm, während Jussif mit

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