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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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einigen der Forderungen seines Bruders, des Phantoms, nicht zurechtkam. Er musste erwachsen werden, um zu begreifen, dass sein Bruder den frommen Männern einen Teil der ihnen von den Menschen überlassenen Weihegaben abpresste und die Frauen nötigte, mit ihm zu schlafen. Im Gegenzug versprach er ihnen, über ihre Missetaten Stillschweigen zu bewahren. Diese Schweinereien fanden ein jähes Ende, als eines Tages sein Verhältnis mit einer einflussreichen Dame aufflog.
    Jussif berührte Maske und Brille, und erneut überkam ihn ein Gefühl wie ein Rausch. Er schien sie dort liegen gelassen zu haben, als vermute er, dass die Stunde kommen würde, da er beides bräuchte.
     
    Als Jussif aus seinen Träumereien aufschreckte, setzte er sich aufrecht hin. Maske und Brille waren ihm auf die Brust gerutscht. Auf der Leinwand sah er einen flüchtend dahineilenden Mann, der sich zwischen Bäumen auf einem weiten Feld verlor. Er nahm an, dass es Apfel-oder Olivenbäume waren; an ihren Ästen hingen keine Früchte. Als er das Verschwinden des Mannes bemerkte, sah er auch eine Frau, die rasch auf ihn zukam, als würde sie sich vergeblich bemühen, über die Leinwand hinauszulaufen. Sie streckte die Hand nach dem Mannaus. Er konnte ihn nicht genau erkennen, weil der Mann sich in der Tiefe der Leinwand verlor. Hinter den Bäumen erblickte Jussif die im Nebel sich auflösenden Mauern einer weit, weit abliegenden Stadt und die schemenhafte Gestalt eines Mannes, der sich von der Stadt entfernte. Er sah ihn, und er sah sich selbst, wie er die hohen Treppen der Stadt emporklomm. Er rang deutlich hörbar nach Atem. Der Mann war kahlköpfig und krank wie er selbst. Sein Gesicht war schmal und bleich. Ein vermutlich schwaches Herz und ein sich nahezu zersetzendes Gehirn verstärkten den Eindruck der Magerkeit. Alles deutete darauf hin, dass er gerade aus dem Krankenhaus kam; vielleicht war er geflohen. Es konnte sich um eine Flucht aus der Nervenheilanstalt handeln. Jussif sah, wie der Mann die Frau anstarrte. Dann sah er sich selbst in einem kleinen Raum sitzen. War es ein Zimmer oder der Salon eines Hauses? Er wusste es nicht. Der Mann setzte sich. Er schien früh, sehr früh aufgestanden zu sein. Jussif sah ihn, und er sah sich selbst, wie er stundenlang an einem Tisch saß, darauf ein Aschenbecher, zwei Gläser, eine Dose Bier und das Lokalblatt. Der Kassettenrekorder, auf dem er zur Schlafenszeit die Stimmen der in das Haus schleichenden Phantome aufnahm, lief noch. Er holte die Kassette der vergangenen Nacht heraus und legte eine neue ein. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann stand er kurz auf und tastete über die Stirn einer Frau, die auf einem Bild, dem Einzelporträt einer Frau, dargestellt war. Sie war wohl schon tot oder hatte ihn verlassen, wer weiß. Er sah, wie der Mann sich wieder an seinen Platz setzte, und er sah sich selbst, mehr wusste er nicht. Er wusste aber, dass er die laufende Frau sah und den Mann, der mit der Frau sprach, mit der Frau auf dem Bild oder auf der Leinwand – es war ihm entfallen. Die Züge des Mannes waren schwer auszumachen, nur die Frau auf der Leinwand war deutlich zu erkennen. Das Gesicht des Mannes war immer unsichtbar. Er sah die staubigen, abgewetztenalten Kleider des Mannes, auf den Tisch geworfene Gegenstände, einen alten Koffer mit einer Menge Krimskrams: die Übersetzungen von ausländischen Liebeserzählungen und einige Briefe ohne Absender. Vielleicht schickte er sie weiterhin an seine abwesende oder tote Frau oder an Freunde, die aus dem Land geflohen waren, dem Land der Siegreichen und der Gedemütigten – denn der Name des Absenders konnte sie mehr in Gefahr bringen, als er meinte. Die Frau näherte sich dem Mann vor dem Rekorder, der anscheinend dabei war, eine neue Kassette einzulegen. Die Frau lief und schrie ihn an, während der Mann aus dem Fenster hinausblickte. Groß und weit dehnte sich ein Feld unter dem Fenster. Der Mann redete, er hörte ihn reden. Eintönig, mit liebenswerter Eintönigkeit wiederholte er seine Wörter wie das auf und ab tanzende Schiffchen im Webstuhl. Seine Stimme klang vertraut. Er erzählte und erzählte, wie er seine Tage verbrachte. Er erzählte und erzählte von seinen Streifzügen durch die Stadt, während er – wie es schien – doch seit Jahren im Haus saß, so lange, dass alles seinem Gedächtnis entglitten war. Er erzählte der lächelnden Frau im Bilderrahmen oder der Frau, die unter dem Fenster vorbei in die Tiefe der Leinwand

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