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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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Kino gingen? Wenn man wirklich leben und die Welt durchschauen wolle, müsse man sich in die Erfahrungen und Daseinsformen anderer Menschen, in ihre Weltsicht vertiefen und sie zu einem Teil seiner selbst machen.
    So mache er es jedenfalls. Wer glaube, er spreche über sich selbst, irre. Er erzähle nämlich nur die Geschichte eines ihm seit langem bekannten Menschen. Diesem Menschen habe er einmal seinen Namen geliehen, bevor er ihn mit einer Reihe anderer Namen benannte. Er habe gemeint, ihn so vor Wahnsinn und Tod retten zu können. Aber er habe ihm nicht helfen können, sondern ihn vor langer Zeit aus den Augen verloren. Bevor er die Geschichte seines Freundes erzähle, müsse er seine Zuhörer noch einmal warnen: Sie sollten nicht glauben, er spreche über sich selbst. Er werde seinem Freund den Spitznamen »der Imitator« geben müssen, wenn er über ihn rede. Er erinnere sich, dass sein Freund bei seiner Verhaftung vorgebracht habe, er habe Sexgeschichtchen für die Soldaten geschrieben und es dabei einem Freund namens »Harun Wali« gleichgetan. Als man ihn darum fragte, warum er solche Lügengeschichten schreibe und sich solcher Gefahren aussetze, antwortete er, dass er mit dem Schreiben angefangen habe wie mit dem Rauchen, ganz einfach. Wenn sein Freund schreibe, warum sollte er ihn nicht nachahmen und auch schreiben, vor allem weil er seine Kameraden auf diese Weise glücklich mache? Sie vergäßen für eine kurze Weile Einsamkeit, Schmutz und Zerstörung! Da mache es nichts aus, wenn es sich um »Schmuddel«geschichten handle, die er den schlüpfrigen Angebereien der Soldaten selbst nachempfunden habe. Auch später habe er nicht aufhören können, so zu denken. Er sei überzeugt gewesen, dass es nichts »Ursprüngliches« gebe. Der Sohn trete in die Fußstapfen des Vaters, die Tochter in die der Mutter; alles Plagiat. Alle wüssten dies, doch er gerate geradezuaußer sich über dieses Wissen. Die gesamte Menschheit lasse sich davon nicht abbringen. Väter und Mütter erzögen Söhne und Töchter. Schriftsteller schrieben Roman über Roman. Künstler malten Bilder, Liebende stehlen Liebesgeschichten voneinander. Alle täten alles in ihrer Macht Stehende, um einander nachzuahmen. Er sei froh, wenn ihn jemand nachahme. So brächten große Schriftsteller große Schriftsteller hervor. Das Gleiche geschehe in der Kunst. In jeder Fälschung lauere der uns eigene, der an uns klebende Touch, während wir glauben, dass wir gut gefälscht hätten. Diese Weisheit habe er von einem Freund, der rechtmäßig berühmte Bilder fälsche und teuer verkaufe. Er heiße Josef Karmali, doch nenne er sich selbst »Josef K.«, wie der verzweifelte Mann aus Prag, auf den er zufällig in einem der süchtig machenden Romane gestoßen sei. Doch der Fälscher habe auch ein Schicksal hinter sich. Nur mit triftigen Gründen gelange man zu der traurigen Weisheit, alles sei gefälscht.
    Bevor der Erzähler begann, warnte er einige seiner Zuhörer nochmals. Wer glaube, er würde eine Geschichte mit Happy End zu hören bekommen, solle lieber die Bar verlassen. Er würde von der Geschichte so berichten, wie sie seinem Freund wirklich zugestoßen sei, und nicht, wie er sie sich ausgedacht habe: »Uns allen ist bekannt – auch ich unterscheide mich nicht von den anderen –, dass wir ohne eigenes Dazutun in die Welt gesetzt wurden. Tag für Tag gehen wir unseren gewohnten Verrichtungen nach, ohne dass es uns in den Sinn kommt, wir könnten auf diese Weise sogar die schönen Alltagstätigkeiten in etwas Vertrautes verwandeln. Wir vollziehen unsere Handlungen, als unternehmen wir ›einen Spaziergang an vertrauten Orten‹. Diesen Titel will er seinem Roman geben, den zu schreiben man ihm unterstellt: ein täglicher Spaziergang, bei dem sich das Heutige nicht vom Gestrigen unterscheidet. Wir meinen aufzuwachen, wie wir immer aufwachen. Unsere Bewegungenunterscheiden sich in keiner Weise von denen der vergangenen Nacht, der Tag ist wie der vorherige. Wenn wir in den Spiegel blicken, bemerken wir eine winzige Veränderung an uns, eine Nuance an einer Locke oder an der Haarfarbe. Daran können alle Menschen, jeder in unserer Umgebung, erkennen, dass wir wir sind. Wenn man meinem Freund den Namen wegnimmt – einerlei ob er Jussif oder Josef, Junis oder Harun heißt, einerlei ob dieser Name der ursprüngliche oder ein später erfundener, ein von Rechts wegen oder betrügerisch angeeigneter, alt oder neu ist – man findet einen Menschen, der sich

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