Jussifs Gesichter
Einzelteile zerlegen könne. Und dreißig Jahre später gab es diese Art von Fahrrädern tatsächlich! Wer sein Leben von Anfang an auf Geschichten aufbaut, dem fällt es immer schwerer, die Vorgänge der wirklichen Welt um sich herum anzuerkennen. So wurde dem Imitator, dem ›Lügenbold‹, nicht bewusst, dass sein ständiges Verweilen in seiner Phantasiewelt zum Bruch mit seiner Familie, zum Verlust seiner Freunde führen musste.
Mit elf Jahren war er schwer in ein Mädchen verliebt, das mit ihm zur Schule gegangen war, in die fünfte Klasse. Auch sie las gern Geschichten. Ihr Vater war Englischlehrer und besorgte über einen Freund, der in der englischen Botschaft arbeitete, Comics. Die beiden saßen oft zusammen unter dem Lotusbaum auf dem Schulhof und durchblätterten lachend die Comics.
Diese Tage vergaß der ›Lügenbold‹ nie, obwohl sie nur von kurzer Dauer waren: fünf Wochen und drei Tage. Aber sie reichten, um sich für immer an das Mädchen mit den grünen Augen, den blonden Zöpfen und dem blauen T-Shirt zu erinnern.
Nach nur fünf Wochen und drei Tagen starb das Mädchen auf einem Schulausflug, weil es ein Stück von einem mit Nägeln gefüllten Kuchen aß.
Verwirrung und Raserei wurden immer schlimmer. Es ging so weit, dass er eines Tages mit einer seit Kindertagen aufbewahrten Maske und Brille vor dem Gesicht ein Kino verließ und einer zufällig die Straße überquerenden Frau folgte, um hinter ihr ins Haus einzudringen, sie zu betatschen und aufs Bett zu werfen. Da griff man ihn schließlich auf und überantwortete ihn dem Irrenhaus.
In allen seinen Geschichten, die er im Spital zum Besten gab, vermischte er Wahrheit mit Lüge, Wirklichkeit mit Einbildung. Wer ihn hörte, zweifelte keine Sekunde an seiner Krankheit, zumal er mit so viel Wonne fabulierte. Ich fragte mich, ob dies seine Taktik war, sich der Welt entgegenzustellen? Doch warum hat er sich mir gegenüber so verhalten? Wann immer ich ihm zu verstehen gab, dass ich die Wahrheit seiner fortwährend aufgetischten Geschichten nicht erkennen könne, antwortete er: ›Dann erzählen Sie mir eine Geschichte.‹ Und wenn ich mich bei ihm erkundigte, was er hören wolle, entgegnete er spöttisch: ›Ach, irgendwas, das ist doch egal!‹
Der Kranke vertraute mir an, ich, sein Arzt, erinnere ihn an einen Freund, der mit ihm in der Armee gedient habe: ein Schriftsteller, der seine Haut gerade noch ins Ausland retten konnte und alle anderen ihrem Schicksal überließ, Harun Wali. Er wollte dessen Namen annehmen, was ich als Arzt davon halte? Ich lehnte seinen Vorschlag nicht ab, weil ich nichts fand, was unserer Freundschaft geschadet hätte.
Wie sich der ›Lügenbold‹ in seiner Zeit beim Militär darangewöhnte, aus der Kaserne zu flüchten, so türmte er auch mehr als einmal aus dem Irrenhaus. Immer wieder fassten sie ihn und brachten ihn zurück, immer wieder lief er davon. Beim letzten Mal, als das ganze Land schon in Anarchie versunken war und sich in eine Straße voll mit Panzern und bedroht von Splitterbomben verwandelte, bemerkte niemand seine Flucht, außer sein Bruder vielleicht, der unter seinem Namen lebt und sich einer Vergangenheit rühmt, die nicht zu ihm gehört. Doch anders als sonst entwich der Mann dieses Mal nicht aus dem Haus, sondern beschloss, dort bis zur Rückkehr seiner Frau zu bleiben. Um ihr zu erklären, was ihm in all den Jahren seit ihrer Trennung zugestoßen war, nahm er seine Gedanken und die Geschehnisse in seiner Umgebung auf einem Kassettenrekorder auf. Selbst nachts ließ er das Band laufen und nahm die Geräusche der Nacht auf, damit seine Frau bei ihrer Rückkehr erführe, dass auch das Haus Tag und Nacht ihren Namen atme. Ein paar Stunden vor Sonnenaufgang, mitten in der Nacht, stand er auf, um nicht bis Tagesanbruch zu schlafen, als wolle er auf diese Weise den Morgen vergessen, an dem er das Haus verließ. Abends und nachts hatte er vor dem Einschlafen immer nur sie im Kopf, konnte an nichts und niemanden anderes denken. Er versuchte, ihre Gestalt wiederzugewinnen, zeichnete ihre Gesichtszüge, als wolle er ihre Abwesenheit für die Auferstehung ihres Wesens nutzen. Er schlief nur wenig und auch nur, um sie im Traum zu sehen. Er hatte das Gefühl, sie in seiner Vorstellung verloren zu haben, hatte dabei aber nur sich verloren. Sie schlief noch an seiner Seite, und er wollte sie nicht stören, ließ sie schlafen und stahl sich aus dem Haus, um nach sich selbst zu suchen.
So nahm mein Freund
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