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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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aus der »Medizinstadt«. Sie winkten ihm mit den Zeitungen des nächsten Tages zu und riefen: »Drei gefährliche Kranke sind aus der Nervenheilanstalt geflohen!«
    Er kaufte ihnen ein paar lokale Blätter ab und fragte, ob sie nicht mehr zur Arbeit in die »Medizinstadt« gingen. Sie händigten ihm die Zeitungen aus und erwiderten lachend: »Sie sind ein wunderbarer Erzähler, Meister. Jedes Mal erfinden Sie eine neue Geschichte. Werden Sie morgen wiederkommen und uns nach dem Vergessensapparat fragen?«
    Er erinnerte sich, dass sie ihm stets mit Zeitungen zuwinkten, wenn er zu dieser Stunde bei ihnen vorbeikam, und ihm dieselben Worte zuriefen. Sie leugneten jedes Mal, in der »Medizinstadt« beschäftigt zu sein. Manchmal reichten ihnen diese Worte, manchmal fügten sie noch hinzu: »Sieht so aus, als schrieben Sie einen neuen Roman!«
    Oft lachte er und machte ihnen klar, dass er im Leben nicht daran gedacht habe, eine Erzählung oder einen Roman zu verfassen. Er habe aber einen Freund, der Geschichten erfinde und sich danach sehne, ein großer Erzähler zu werden, von dem alle Welt spräche, der aber leider wüsste, dass das Echo seiner Geschichten nie über die Grenzen der geheimen Bar dringen würde, die sie auch die Mekka-Bar nannten. Als ihn die Männer fragten, welches Ende sein Freund sich für sie ersonnen habe, antwortete er, sie müssten abwarten oder wirklich zur Arbeit in die »Medizinstadt« gehen.
    Er nahm die Zeitungen entgegen und suchte ein kleines Restaurant an einer Straßenecke auf, wo sich gern ausländische Journalisten aufhielten. Er setzte sich in eine Ecke, in die er sich auch sonst manchmal zurückzog, und bestellte eine halbe PortionKebab mit Salat. Während er auf das Essen wartete, blätterte er rasch die Zeitungen durch, aber weder Überschriften noch Bilder erregten seine Aufmerksamkeit.
    Der Restaurantbesitzer brachte ein Schälchen mit Essen an seinen Tisch und fragte: »Hat man sie gefasst?«
    Ohne den Kopf zu heben, erkundigte sich Jussif, was mit der Frage gemeint sei. Der Mann fügte hinzu: »Die Flüchtlinge aus dem Irrenhaus nebenan. Man sagt, sie seien ein bisschen gefährlich.«
    Jussif begnügte sich mit einem Nicken, verharrte aber auf seinem Platz. Auch die Antwort des Restaurantbesitzers hörte er nicht. Seine Worte erschienen ihm ebenso bedeutungslos wie die hervorspringenden Zeitungsüberschriften. Mit den Augen suchte er etwas Bestimmtes, wovon ihn auch das Essen nicht ablenken konnte: die Seite mit den lokalen Nachrichten. Von allen Zeitungen breitete er dieses Blatt vor sich auf dem Tisch aus, um sorgfältig suchen zu können, während er an einem Stück des mit Kebab gefüllten Brotes kaute. Dort, in einer Ecke auf jeder Seite der lokalen Nachrichten, direkt unter dem Kleingedruckten, stand außer dem Namen der Zeitung »Fadschr aldschadid« – »Die neue Morgendämmerung«: Die Geschichte des aus dem Irrenhaus geflüchteten Henkers Junis Mani neben einer großen Überschrift: Interview mit Herrn Professor Jussif Mani über seine Kenntnisse der Geheimnisse seines Bruders Junis .
    Jussif blätterte erneut durch die Zeitung und warf einen Blick auf die erste Seite, wo die Adresse der Zeitung angegeben war. Dort las er seinen Namen: Herausgeber und Chef der Redaktion: Jussif Mani .
    Er faltete die Zeitungen zusammen, stand auf, nachdem er gezahlt hatte, und verließ das Restaurant, um sich auf den Weg zur Bar zu machen. Diesmal, so dachte er, ging sein Bruder wirklich bis zum Äußersten. Die beiden Nachrichten waren also vor allem auch eine Warnung gewesen.
    Als er die Tür zur geheimen Bar aufstieß, war es zwei Uhr morgens. Dies erfuhr er von dem Barkeeper, der ihm beim Hereinkommen mit vertrauter Freundlichkeit zurief: »Zwei Uhr, die Stunde, zu der unser Held von seinen berühmten Spaziergängen eintrifft!« Doch da waren auch die anderen Gäste, die ihn mit der altbekannten Herzlichkeit begrüßten und ihm Bemerkungen zuwarfen, wie Freunde sie untereinander austauschen, obwohl sie keine Antwort von ihm erwarteten. Er war der Bar, der einzigen, die durchgehend – gewissermaßen heimlich – vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet war, verfallen. Dies lag nicht daran, dass er keine andere Gaststätte kannte, die seit Verkündigung der landesweiten »Glaubensoffensive« noch alkoholische Getränke ausschenkte. Er wollte sich einfach nicht anstrengen, eine andere Bar ausfindig zu machen, er stellte sich nicht einmal die Frage. Darin unterschied er sich nicht

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