Jussifs Gesichter
der Fall. Sie waren so beschäftigt mit ihren Geschichten und ihrem Geplauder, dass sie die Welt um sich vergaßen. Nicht selten blieb er an seinem Platz, betrachtete sie und lauschte ihren Erzählungen. Da war etwa der Barkeeper, der über die anderen Bars sprach: »Am Rand vieler Straßen verschiedener Stadtviertel, am Maidan-Platz und in Karada, in der Rubai’i-Straße und Sina’a stehen Kästen mit weißen Korken, daneben Eisbretter voller Spirituosen, und Alte wie Junge trinken hemmungslos. Gesternhabe ich es mit eigenen Augen gesehen! Stellt euch vor: Wir könnten das Motto ganz zeitgemäß von Glaubensoffensive in Alkoholoffensive umändern. Das ganze Land wird überschwemmt von einer Welle aus Rausch und Trunkenheit. Aber natürlich gibt es nirgendwo einen Arrak wie hier. Jeder Tropfen meines Arrak erinnert uns an die schmerzgeladenen Tage und alles, was der Wind mit sich wehte. Tat ich nicht recht daran, diese Bar »Mekka-Bar« zu nennen?«
Er hörte die Stimme des Offiziers, den der Soldat mit dem Vergessensgerät begleitete, und er sah einen Mann, der halb verdeckt war, als wolle er sein Gesicht verstecken oder als versuchten die beiden anderen, ihn abzuschirmen. Doch Jussif gelang es, einen Teil seines Gesichts wahrzunehmen. Beim Einschenken seines ersten Glases fragte er sich, ob es nicht Josef Karmali oder Josef K. sei oder »Harun Wali«, wie er sich jetzt nannte. Warum verbarg er nur sein Gesicht? Vielleicht war es der Arzt aus der Irrenanstalt, mit dem er gesprochen hatte, als er einmal Onkel ’Assim besucht hatte. Er konnte sich nicht mehr genau an sein Aussehen erinnern, wusste aber noch, wie er Onkel ’Assim heilen wollte. Wie den anderen Gestörten auch erzählte er ihm so lange eine Geschichte – seine eigene Geschichte –, bis er ihn dazu brachte, eine lieb gewonnene Persönlichkeit zu der seinen zu machen: die eines abwesenden, guten Freundes, auf den er hörte. Wenn der Irre sich gegen diese Behandlung gewehrt und sich ihr zu entziehen versucht hätte, wäre der Arzt ihm überallhin gefolgt und hätte ihn auf diese Weise dazu gebracht, zu sich selbst zu finden. Doch Jussif hatte ihn gefragt, warum die anderen Patienten ihm lauschten. Die Lage der Verrückten oder sogenannten »Nervenkranken« im Land der Siegreichen und der Gedemütigten war so verzweifelt, dass Onkel ’Assim sich selbst bis zu seinem Tod weigerte, irgendeine Geschichte anzuhören. Der Arzt hatte mit einem Satz geantwortet, der Jussif bis zum Betreten der Bardurch den Kopf gegangen war: »Wir sind Wesen, die einander etwas erzählen. Wer daran nicht glaubt, wäre nicht verrückt geworden, sondern früh gestorben.«
Jussif führte das Glas an den Mund und betrachtete den Mann genau, um sich endlich einen Reim auf diese Person machen zu können. Er trug eine dunkle Brille und saß etwas schief inmitten der anderen Bargäste, die ihre Stühle kreisförmig um seinen Tisch gestellt hatten. Es gelang Jussif kaum, seine Gesichtszüge auszumachen. Aber das Wenige, was er von dem Mann wahrnahm: eine Gesichtshälfte, die dunkle Brille, seine Art, das Glas zu heben und seine Zigarette zu rauchen, sowie die ruhige, die anderen Gäste in ihren Bann schlagende Stimme – all das deutete darauf hin, dass er dem Mann schon einmal begegnet war.
Der Fremde ermutigte die beiden, den Vergessensapparat weiterhin so eifrig zu verwenden, da dieser später einmal für das zukünftige Geschick des Landes von Bedeutung sein werde. Auf dieses Lob hin äußerten der Offizier und der Soldat weithin vernehmbar ihre Dankbarkeit. Und bevor sich Jussif in seinen eigenen Gedanken verlor, hörte er noch, wie der Fremde den anderen erklärte, dies sei der Ort, den er jahrelang gesucht habe. Er bedaure zutiefst, dass es ihm nicht früher in den Sinn gekommen sei, hier einzukehren. Er frage sich, wie er als Gefangener in seinem Haus so viele schöne Jahre seines Daseins sinnlos habe verstreichen lassen können – im Kampf gegen Einsamkeit und Zerstörung. Dann fügte der Mann hinzu, er habe erfahren – auf dieses Thema würde er zurückkommen –, dass er nicht der Einzige sei, der auf diese Art und Weise dahinvegetiere, im Gegenteil gebe es in diesem Land noch viele wie ihn. Wenn er ihnen von seinem Schicksal erzähle, sollten sie ihn nicht allzu ernst nehmen und nicht glauben, ihm sei alles persönlich zugestoßen. Wer ihm glaube, könne die Geschichte, die er zu erzählen habe, nicht verstehen. Der Menschmüsse aus dem Kino lernen. Ob sie viel ins
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