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Jussifs Gesichter

Jussifs Gesichter

Titel: Jussifs Gesichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Najem Wali
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nicht besonders von den anderen noch lebenden Menschen unterscheidet – gleich ob er im Land geblieben oder ins Ausland geflüchtet ist, gleich ob er frei oder gefangen oder wie viele seiner Landsleute eingekerkert ist. Es spielt auch keine Rolle, ob man sich guter Gesundheit und eines klaren Verstandes erfreut oder an den Nerven erkrankt ist wie Millionen andere in diesem siechen Land. Sicher ist euch allen hier bekannt, dass Wahnsinn und Hämorrhoiden um den ersten Platz unter den Volkskrankheiten in diesem Lande wetteifern? Es ist gleichgültig, ob man noch am Leben oder durch ein explodierendes Auto oder durch von Angehörigen oder Freunden abgefeuerte Schüsse getötet wurde! Es ist egal, ob man Mörder oder Ermordeter, Henker oder Gehenkter ist. Er bleibt stets er selbst mit einer lokalen Siegelmarke, der Erfindung dieses Landes: des Landes der für immer Siegreichen und Gedemütigten. Was aber meinen Freund angeht, so wird er auf Nachfrage einfach antworten, dass es in seinem Leben nichts Aufregendes gibt: Er ist ein Mann Mitte vierzig, geboren in diesem Land wie jeder andere Landsmann auch. Er hat ein Studium abgeschlossen und seinen Militärdienst abgeleistet. Er hat zahllose Kriege durchgemacht; es hat keinen Sinn, die genaue Anzahl zu benennen, da sie ja doch nicht aufhören. Er ist seit vielen Jahren verheiratet – wann zählt man schon die Ehejahre indiesem Land? Man kann seine Ehe eindeutig als glücklich bezeichnen, nicht weil er und seine Frau am Leben geblieben sind, sondern weil sie nach allem, was ihnen und ihrer Umgebung widerfahren ist, immer noch zueinanderfinden. Kurzum: Sie sind eine glückliche irakische Familie. Nicht zu vergessen, dass er ein Leben lang keine Gesetzesverstöße begangen hat, obwohl er die Wahrheit nicht meidet – wer wagt es schon, sich an Gottes Stelle zu setzen!«
    Jussif sah, wie der Mann einen Schluck aus seinem Glas nahm und an der alten eine neue Zigarette ansteckte. Das ist also seine Erzählstrategie, dachte er. Glas und Zigarette. Sie glauben, durch dieses kurze Innehalten werde ein neuer Eindruck heraufbeschworen. Andererseits, dachte Jussif weiter, findet hier wirklich ein seltsames Spielchen zwischen Erzähler und Zuhörern statt. Sie halten die kleinen Pausen ja gar nicht für so schlimm. Nicht nur sein Gesichtsausdruck, auch seine Art, den Arrak zu trinken und den Zigarettenrauch mit einem tiefen Seufzer einzuatmen, deutet darauf hin, dass jetzt endlich die Geschichte folgen würde.
    Jussif war von der Frechheit des Erzählers überzeugt, der es sicher nicht gewagt hätte, vor anderen – Fremden – die Geschichte seines Freundes preiszugeben, wenn er auch nur ein Fünkchen Scham besessen hätte. Dennoch merkte er, dass er selbst gespannt auf den Fortgang der Erzählung wartete. Es war ein Genuss, gleichzeitig den Arrak zu trinken und der Geschichte zu lauschen.
    Der Erzähler begann, die Persönlichkeit seines Imitator-Freundes zu beschreiben: »Er war von Kindheit an anders als seine kleinen Freunde. Vielleicht hat ihm sein Talent schon als Kind geholfen, Geschichten zu erfinden. Es ist nur schwer vorstellbar, wie wichtig beim Erzählen einer Geschichte das Lügen ist. Doch es gelang ihm immer wieder, die Kinder zu fesseln und von den erfundenen Geschichten zu überzeugen.
     
    Erstaunlicherweise erzählte er meist die gleiche Geschichte, aber stets auf so geschickte Art und Weise anders, dass es niemand bemerkte. Seine Geschicklichkeit lag darin, die Geschichte in besonderen Einzelheiten zu verstecken. Als er von den Geschenken erzählte, die sein Vater ihm angeblich von seinen zahlreichen Reisen in andere Städte mitbrachte, holte er in ihrer Beschreibung weit aus. Tatsächlich hatte sein Vater die Stadt nie verlassen und ihm auch nie etwas mitgebracht. Er hatte sich aber gewiss gewünscht, sein Vater würde auf Reisen gehen und ihm Geschenke mitbringen. Seine Freunde zwangen ihn geradezu, über die vielen Reisen seines Vaters und die erhofften Mitbringsel zu sprechen. Er hatte jedoch nie im Sinn, die Wirklichkeit so zu treffen, dass sie mit den beschriebenen Dingen übereinstimmte. Einmal etwa erzählte er seinen kleinen Zuhörern, sein Vater habe ihm ein großes Fahrrad gekauft. Auf die Frage, wo es sich befinde, antwortete er, es werde im Kleiderschrank aufbewahrt. Als sie daraufhin wissen wollten, wie ein Fahrrad in einen Kleiderschrank passe, erklärte er, es handle sich um ein seltenes kostbares Exemplar von ausgefeilter Technik, das man in seine

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