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Just Kids

Titel: Just Kids Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patti Smith
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schlug vor, ich solle Johnny die Karten lesen, was ich auch tat. Sein Tarot wies zwar auf ein Chaos widerstreitender Kräfte hin, sagte aber nichts von einer akuten Gefahr. Mit oder ohne Karten, Johnny stand der Tod nicht ins Gesicht geschrieben. Er hatte etwas Besonderes an sich. Johnny war wie Quecksilber. Sogar während er sich Sorgen wegen der J-Club-Todesfälle machte, lief er hektisch im Zimmer hin und her und machte den Eindruck, gar nicht lange genug still sitzen zu können, um zu sterben.

    Ich war zerstreut und kam nicht voran, inmitten halb fertiger Songs und sich selbst überlassener Gedichte. Ich ging voran, so weit es mir möglich war, und lief dann vor eine Wand, stieß an Grenzen, die ich mir selber gesetzt hatte. Doch dann traf ich einen Geistesbruder, der mir sein Geheimnis verriet, und das war erfrischend einfach: Wenn du gegen eine Wand läufst, tritt sie ein.
    Todd Rundgren nahm mich mit ins Village Gate zu einem Konzert der Holy Modal Rounders. Todd hatte sein eigenes Album Runt fertig und suchte nach interessanten Sachen, die er produzieren konnte. Große Acts wie Nina Simone oder Miles Davis traten oben im Gate auf, die eher zum Underground zählenden Bands hingegen im Basement. Ich hatte die Holy Modal Rounders, deren Bird Song auf dem Soundtrack zu Easy Rider war, noch nie live gesehen, aber ich wusste, es würde interessant, denn Todds Geschmack tendierte für gewöhnlich zum Ausgefallenen.
    Es war wie auf einem arabischen Tanzfest mit einer Band von psychedelischen Hillbillies. Ich starrte den Drummer an, der aussah wie ein Verbrecher auf der Flucht und sich hinter dem Schlagzeug versteckte, während die Polizei woanders suchte. Gegen Ende des Sets sang er ein Stück mit dem Titel Blind Rage, und während er auf seine Drums eindrosch, dachte ich: Dieser Kerl verkörpert nun wirklich den Geist des Rock’n’Roll. Er hatte Schönheit, Energie und animalische Anziehungskraft.
    Backstage wurde ich ihm vorgestellt. Er stellte sich als Slim Shadow vor. Ich sagte: »Freut mich, dich kennenzulernen, Slim.« Ich erzählte ihm, dass ich für ein Rockmagazin namens Crawdaddy schriebe und gerne einen Artikel über ihn machen würde. Diese Idee schien Slim zu amüsieren. Er nickte bloß, während ich mit meinem Sermon loslegte, ihm von seinem Potenzial vorschwärmte und ihm versicherte, wie sehr ihn der »Rock’n’Roll brauchte«.
    »Tja, über so was hab ich ehrlich gesagt noch nie nachgedacht«, war seine lakonische Antwort.
    Ich war mir sicher, Crawdaddy würde einen Beitrag über diesen zukünftigen Retter des Rock’n’Roll bringen, und Slim willigte ein, zu einem Interview in die Twenty-third Street zu kommen. Das Chaos bei mir erheiterte ihn. Er flegelte sich auf meine Matratze und erzählte mir von sich. Er sagte, er sei in einem Wohnwagen zur Welt gekommen, und erzählte mir wilde Schwänke aus dem Musikerleben. Slim war ein guter Erzähler. Endlich war einmal ein anderer der Geschichtenerzähler, ein angenehmer Rollentausch. Möglicherweise waren seine Storys sogar noch übertriebener als meine. Er hatte ein ansteckendes Lachen, und er war rau, klug und intuitiv. In meiner Fantasie war er der Kamerad mit der lockeren Cowboy-Schnauze.
    An den folgenden Abenden erschien er mit einem verlegenen, einnehmenden Grinsen noch spät an meiner Tür, ich schnappte mir dann meinen Mantel, und wir gingen spazieren. Wir entfernten uns nie weit vom Chelsea, aber es war, als sei die Stadt zurPrärie geworden, und der vom Wind herumgewehte Müll zu aufgerolltem Steppengras.
    Im Oktober zog eine Kaltfront über New York City hinweg. Ich kämpfte mit einer bösen Bronchitis. In unseren Lofträumen war die Beheizung eher Glückssache, sie waren ja nicht zum Wohnen gedacht und während der Nacht kalt. Robert blieb deswegen oft bei David, während ich all unsere Decken übereinander häufte und lange wach blieb, Little-Lulu -Comics las und Bob Dylan hörte. Ich hatte Schmerzen an einem Weisheitszahn und war ziemlich erschöpft. Mein Arzt sagte mir, ich sei anämisch und müsse viel rotes Fleisch essen und Porter trinken. Den gleichen Ratschlag hatte man Baudelaire gegeben, als er einen Winter lang krank und allein in Brüssel sein Leben fristete.
    Zum Glück war ich etwas findiger als der arme Baudelaire. Ich zog mir einen alten karierten Mantel mit tiefen Taschen an und stahl bei Gristedes zwei kleine Steaks, die ich mir in der alten gusseisernen Pfanne meiner Großmutter auf meiner Kochplatte braten wollte.

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