Justice (German Edition)
der Unterseite ab. Dann überprüften sie den Innenbereich und führten wenn nötig Reparaturen durch. Natalie kontrollierte die Paddel, die in einer Reihe auf dem Boden lagen.
»Schuldig?«, wiederholte Stein nachdenklich. »Na ja. Sie werden jedenfalls die Wahrheit mit ins Grab nehmen.«
»Ich kann es schon verstehen«, meinte Alexander und scheuerte energisch an einer noch mit Algen bedeckten Stelle. »Ich meine, wenn sie tatsächlich schuldig waren, dann können die doch nicht einfach ungestraft davonkommen. Das geht nicht.«
»Was für einen Unsinn redest du da?«, meldete sich Natalie zu Wort. »Das ist Selbstjustiz. Das kann man doch nicht gutheißen.«
»Warum nicht?«, widersprach Alexander. »Sie hatten die Chance, vor die Wahrheitskommission zu treten. Aber sie haben sie nicht genutzt.«
»Vielleicht hatten sie es auch nicht nötig«, schlug Natalie spitzzüngig vor.
»Ach komm!«, lachte Alexander. »Wir reden hier über Polizeipräsidenten, Geheimagenten, Politiker. Wenn an deren Händen kein Blut klebt, an wessen dann?«
Natalie schaute Alexander entsetzt an. »Auch wenn sie schuldig waren, es gibt keine Todesstrafe in diesem Land.«
Alexander zuckte mit den Schultern. »Nicht offiziell.«
Milan drehte den Wasserhahn zu und schaute Alexander an. »Du hast sie nicht mehr alle.«
Herr Stein machte die Tasche mit den Schwimmwesten zu und trat an das Boot heran.
»Herr Stein«, forderte Alexander seinen Geschichtslehrer wieder auf, »Sie haben noch nicht Ihre Meinung dazu gesagt. Wie sehen Sie das denn?«
Stein ging um das Boot herum und inspizierte es gründlich. »Wenn die Toten wirklich das gemacht haben, wofür sie beschuldigt worden sind«, begann er und legte eine kurze Denkpause ein, »dann kann ich den Mörder schon verstehen.«
Alexander grinste Natalie breit an. »Na siehst du!«
Natalie warf das Paddel zu Boden und stand auf, um sich der Gruppe anzuschließen. Auch Milan starrte Stein fassungslos an. Das war nicht die kategorische Ablehnung, die er von ihm erwartet hätte.
»Ich glaube, ich höre nicht richtig!«, rief Natalie entsetzt. »Herr Stein! Wir reden hier von Mord!«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich das in Ordnung finde«, wehrte sich der Geschichtslehrer. »Die ursprüngliche Frage war, ob ich glaube, dass die Toten schuldig waren. Und wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen: Ja, das glaube ich. Und demzufolge habe ich Verständnis für die Motive hinter der Mordserie. Mir wäre es lieber, wenn ich kein Verständnis hätte, aber das wäre nicht die Wahrheit. Eine Menge Menschen haben unter der Apartheid gelitten. Nicht allen ist Gerechtigkeit widerfahren. Die Wahrheitskommission war nicht in der Lage, alle Hebel in Bewegung zu setzten. Viele haben noch eine Rechnung offen.«
»Aber es ist doch die Pflicht des Staates, für Gerechtigkeit zu sorgen«, sagte Natalie aufgebracht.
»Und wenn der Staat es nicht tut?«, warf Alexander dazwischen.
Natalie seufzte resigniert. »Was ist das für eine Gerechtigkeit?«, murmelte sie betroffen. »Menschen zu töten, ohne Prozess, ohne Beweismaterial. Es gibt nichts, was das rechtfertigen kann ...«
»Auge um Auge, Zahn um Zahn«, zitierte Alexander mit Genuss. »So wie in der Bibel.«
Natalie schüttelte resolut den Kopf. »In der Bibel vielleicht, aber nicht in einem Rechtsstaat.«
»Du hast recht, Natalie«, stimmte Herr Stein dem Mädchen zu. »Das ist eine kranke Gerechtigkeit. Aber wir wissen nicht, wie es für Menschen ist, die einen solchen Verlust erlitten haben.«
»Aber Menschen umzubringen macht ihren Verlust nicht besser«, argumentierte Natalie.
Stein drehte seinen Schülern den Rücken zu und schaute aufs Meer. Seine breiten Schultern wirkten wie eine Säule, die den Himmel am Horizont hochhielt.
»Nein. Das tut es nicht ...«, sagte er und nickte langsam.
Für einen Augenblick schwiegen die drei Schüler. Milan und Natalie tauschten einen besorgten Blick aus. Nie im Leben hätten sie gedacht, dass Herr Stein mit einem Mörder sympathisieren würde. Schließlich war er immer derjenige, der Toleranz und Versöhnung predigte.
Nach einer Weile drehte sich Stein wieder um und sah seine Schüler fast entschuldigend an. Dann schlug er die Hände zusammen und deutete mit einem Kopfnicken auf das Drachenboot.
»So! Jetzt aber zurück an die Arbeit. Lasst es uns reinrollen!«
Mit großen Schritten ging er voran und machte die Tür zum Bootshaus auf.
Eine halbe Stunde später verabschiedeten sich Alexander und
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