Justice (German Edition)
die Treppe hinunter.
»Warum bist du hier?«, fragte Stein im Treppenhaus.
»Nicht reden«, erwiderte Milan.
Stein keuchte und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. »Du bist mir gefolgt«, schlussfolgerte er.
Milan antwortete nicht. Er hielt seinen Geschichtslehrer fest um den Bauch und stützte ihn ab. Stein verzog schmerzerfüllt sein Gesicht und verstummte. Während sie die letzten zwei Stockwerke hinunterstiegen, vernahm Milan draußen bereits die Sirenen. Die Polizei war angekommen.
»Geben Sie mir Ihren Autoschlüssel«, forderte Milan mit Blick auf den Ausgang. »Ich hole den Wagen.«
Stein widersprach dem Jungen nicht. Milan griff in seine Manteltasche und zog den Schlüsselbund hervor.
»Bleiben Sie hier«, sagte Milan. »Ich bin gleich wieder da.«
Milan ließ Stein neben dem Notausgang zu Boden gleiten und machte vorsichtig die Tür auf. Er spähte nach draußen. Sie befanden sich seitlich des Hoteleingangs. Er trat in eine schmale Gasse, die voller großer Müllcontainer stand. Keine Spur von der Polizei. Milan schlich hinaus und ging vorsichtig auf die Straße zu. Er blieb an der Ecke des Hotels stehen. Vor dem wellenförmigen Vordach des Hoteleingangs hielten gerade zwei Polizeifahrzeuge an. Schwer bewaffnete Beamte in kugelsicheren Westen stiegen aus und eilten ins Foyer. Auf der anderen Seite sah Milan Steins roten Volkswagen Citi. Er wartete, bis der letzte Polizist das Hotel betreten hatte, dann überquerte er unauffällig in langen, zügigen Schritten die Straße, sprang über den Zaun auf den Mittelstreifen und lief zum Auto.
Kurz darauf stieg Milan in Steins Auto und fuhr mit zitterigen Händen los. Schon als Dreizehnjähriger hatte ihm sein Großvater das Autofahren auf der Farm beigebracht. Damals hatte er noch Holzstücke unter seine Fußsohlen gebunden, damit er überhaupt die Pedale erreichen konnte. Das war Jahre her, aber Milan hatte den einfachen Ablauf des Fahrens nicht vergessen. Ihm fehlte nur die Übung.
Bei der ersten Gelegenheit wendete er mit einem U-Turn und kehrte auf der anderen Straßenseite zum Hotel zurück. Zwei weitere Polizeifahrzeuge hielten mit quietschenden Reifen vor dem Hoteleingang, aber Milan fuhr einfach an ihnen vorbei. Er blieb vor der Gasse seitlich des Hotels stehen und warf einen Blick in den Rückspiegel. Als der letzte Polizist im Hotel verschwunden war, legte er den Rückwärtsgang ein und setzte zurück. Vor dem Notausgang hielt er an. Er ließ den Motor laufen, sprang aus dem Auto und öffnete eine der hinteren Türen.
Stein hatte inzwischen das Bewusstsein verloren. Milan kniete sich panisch vor ihn und schüttelte ihn grob an der Schulter. Doch Stein kam nicht zu sich. Milan schlug ihm mit der Handfläche ins Gesicht.
»Herr Stein! Wachen Sie auf! Wir müssen zum Auto. Die Polizei ist da!«
Schließlich öffnete Stein die Augen und schaute Milan mit starrem Blick an.
»Sie müssen mir helfen«, drängte Milan. »Stehen Sie auf!«
Mit einer Kraft, die Milan sich selbst nicht zugetraut hätte, hievte er seinen Geschichtslehrer auf die Beine. Stein konnte kaum stehen, aber Milan hielt ihn fest und schleppte ihn zum Auto.
»Wo gehen wir hin?«, murmelte Stein fast von Sinnen.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Milan panisch. »Weg von hier.«
Die Antwort schien bei Herrn Stein anzukommen. Er hielt sich an der offenen Autotür fest und ließ sich erschöpft auf den Rücksitz fallen. Aus dem Gebäude hörte Milan, wie die Polizei im vierten Stock ins Treppenhaus stürmte. Die Tür des Notausgangs knallte zu, sie brüllten Anweisungen und stürmten die Treppe hinab.
Milan sprang ins Auto. Mit quietschenden Reifen raste er los. Als er am Ende der Gasse in die Straße einbog, schaute er flüchtig in den Rückspiegel. Hinter ihnen tauchten die ersten Polizisten desorientiert aus dem Notausgang auf, doch bevor sie den roten VW bemerken konnten, war Milan längst weg.
Der Broederbond
Immer wieder schaute Milan in den Rückspiegel. Jeden Augenblick erwartete er, die rot-blauen Autos der örtlichen Polizei zu sehen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie um die Ecke schossen und die Verfolgung aufnahmen. Doch sie kamen nicht. Zuerst konnte Milan es nicht glauben. Hinter ihm fuhren kreuz und quer Fahrzeuge aller Größen und Farben, aber keines davon besaß ein Blaulicht. Nicht mal in der Ferne waren Polizeisirenen zu hören. Milan hatte es geschafft. Die Reinigungskraft hatte ihren Job gut gemacht: Sie hatte die Polizei lange genug
Weitere Kostenlose Bücher