Justin Mallory 01 - Jäger des verlorenen Einhorns
Manhattan sollte mir danken. Eine übermäßig regulierte Gesellschaft braucht Gesetzesbrecher, ganz wie unsere Gesellschaft einen Sinn für Ordnung benötigt.« Der Grundy starrte Mallory an. »Begreifst du auch nur in Ansätzen, was ich dir zu erklären versuche?«
»Ich arbeite daran«, sagte Mallory. »Nur aus Neugier: Was ist mit den beiden weiteren Welten?«
»Welchen beiden weiteren Welten?«
»Die Welten, zu denen dir diese Rubine Zugang ermöglichen«, antwortete Mallory und deutete auf die Halskette des Grundys.
»Ich war noch ganz jung, als ich meinen ersten Rubin erwarb«, erzählte der Grundy. »Meine Kräfte waren noch nicht ausgereift, und ich verstand mich nicht darauf, sie zu steuern.«
»Du hast die ganze Welt zerstört?«
»Diese Erfahrung schenkte mir beträchtliches Wissen.«
»Na ja, freut mich, dass es irgendjemandem genützt hat. Was wurde aus der anderen?«
»Es war eine Welt der Vernunft, die sich ganz dem geweiht hatte, was die besten Seiten am Menschen sind«, antwortete der Grundy. »Sie stand kurz davor, sich zu einem Utopia zu entwickeln, als ich den Rubin an mich brachte.«
»Und jetzt?«
»Ich führte dort das Chaos ein, füllte ihre Seele mit Hass und Engstirnigkeit und Eifersucht, ich zerstörte die Denkmäler, die sie der Vernunft errichtet hatten, und zwang sie, heidnische Standbilder zu meinen Ehren zu errichten.«
»Und das zum Guten der Menschen dort?«, fragte Mallory trocken.
»Gewiss«, antwortete der Grundy. »Man weiß ein Utopia nicht zu würdigen, ohne dass man ein Dystopia erlebt hat. Man kann ja auch das Gute nicht würdigen, ohne das Böse erlebt zu haben.«
»Du sprichst in einem fort davon, das Gleichgewicht zu wahren, vom Guten und Bösen und deinen Zielen«, sagte Mallory. »Alles, was ich jedoch höre, ist die Art und Weise, wie du alles zerstörst, was du anfasst.«
»Humanisten werden dir erklären, dass Gut und Böse relative Begriffe sind, dass man im Universum keine absoluten Werte findet«, sagte der Grundy. Er knurrte verächtlich. »Humanisten sind Narren! Das absolut Gute und das absolut Böse existieren. Das Universum benötigt nicht nur das eine, sondern beide. Ich verkörpere das eine, und meine Aufgabe ist es, mich dem anderen zu widersetzen.«
»Wer verkörpert das Gute?«, fragte Mallory.
»Genau wie ich nicht zu allen Zeiten und an allen Orten existiere, gilt das auch für meinen Gegenspieler. In manchen Universen ist er Jesus, in anderen Muhammad, in wieder anderen nichts weiter als ein abstraktes Ideal, eine Vorstellung, in einen Gedanken oder ein Wort gefasst.«
»Und du versuchst das Gute umzubringen?«
Der Grundy schüttelte den Kopf. »Das Universum geriete genauso aus dem Gleichgewicht, falls ich meinen Gegenspieler ausschaltete, wie es geschähe, falls er mich beseitigte. Ich kann versuchen, ihn zu bezwingen, wie er auch versucht, mich zu bezwingen, aber keiner von uns beiden kann je den Sieg davontragen. Ich zerstöre einen Menschen, und er erschafft ein Kind; er pflanzt eine Blume, und unter meinem Atem verdorrt sie; ich versklave ein Volk, und er schenkt ihm eine Vision der Freiheit; er errichtet ein Denkmal, und ich nage an dessen Fundament.«
»Wenn du ein Gleichgewicht erreicht hast, wozu brauchst du dann noch einen Rubin?«, wollte Mallory wissen.
»Um das Gleichgewicht in noch einer weiteren Welt zu bewahren«, antwortete der Grundy. »In deiner Welt.«
»Wenn du mit Gleichgewicht Mord und Vergewaltigung und Krieg meinst, dann verfügt meine Welt schon über ein bisschen mehr Gleichgewicht, als sie sinnvoll verwenden kann«, erwiderte Mallory ironisch.
»Ich gewinne Verwirrung aus Ordnung, Hass aus Liebe, Verschmutzung aus Sterilität - und aus meiner Kraft wird der Gegenspieler einen tiefen Schluck nehmen und seine eigene damit stärken.«
Mallory starrte ihn lange an. »Du hast genug Unheil für ein ganzes Leben angerichtet«, sagte er schließlich. »Ich werde nicht zulassen, dass du noch mehr davon in meine Welt trägst.«
»Du wirst mir den Rubin nicht aushändigen?«, fragte der Grundy.
Mallory schüttelte den Kopf. »Meine Welt hat schon genug Schwierigkeiten, auch ohne dass du noch mehr davon bringst.«
»Aber das habe ich schon!«, lachte der Grundy. »Rittersporn hat viele Jahrzehnte lang gelebt. Wer, denkst du, hat einem enttäuschten österreichischen Maler imperiale Träume eingeflüstert? Wer gab die Maschinerie der Exekutionen in Stalins Hände? Ich war in My Lai und Auschwitz, in Phnom Penh
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