K
sie.
»Kannst du den hier erübrigen? Er würde mich in der Luft gut warm halten.«
»Deine Beine sind viel zu dick«, sagt sie.
»Nicht für die Beine«, sagt er. »Ich ziehe ihn mir über den Kopf und trage ihn direkt unterm Helm.«
Cécile zuckt die Achseln. Dumpfe Geräusche dringen von der Straße herauf. In letzter Zeit wird ständig irgendetwas hin und her gezerrt: Kommoden, Tische, Badewannen, selbst Küchenherde oder Waschbecken. Das Feuer der deutschen Geschütze rückt immer näher an die Stadt heran, zerstört vorgelagerte Dörfer und scheucht deren Bewohner vor die Haustüren von Verwandten, die, da vereinzelte Granaten bereits die Stadtgrenzen erreichen, selbst anfangen, Familienerbstücke oder doch zumindest verkaufbare Dinge zu horten, auf Karren zu laden und damit über löchrige Straßen erhoffter Sicherheit entgegenzuholpern. Wer bleibt, schleppt Eimer und Flaschen vom Haus zur Pumpe und vom Laden nach Hause: Gas- und Wasserrohre, die mehr als die Hälfte der Bevölkerung versorgten, wurden zerstört. Abwasserrohre und -kanäle sind verstopft und aus der Erde gerissen, um ihren Dreck auf Kopfsteinpflaster zu speien. Am Stadtrand wurde sogar ein
Friedhof in die Luft gejagt; der Gestank herausgeschleuderter Leichen steht in der Luft, durch die Kälte kristallisiert und haltbar gemacht. Serge kann den Friedhof von Céciles Fenster aus sehen. Dahinter liegen auf einem Feld zwei tote Pferde mit geschwollenen Bäuchen. Und dahinter, gleich jenseits der Ruinen eines Bauernhauses, das einmal die Feldgrenze markierte, verunstalten verkohlte, zersplitterte Baumstümpfe eine winterliche Landschaft, die Serge sich anders gar nicht mehr vorstellen kann.
II
Eines Nachmittags im Januar versammelt Walpond-Skinner seine Männer im Hauptraum des rotgiebligen Hauses und gibt bekannt, dass man einen größeren Vorstoß plane. Serge, Gibbs sowie einige weitere Piloten und Beobachter werden von Frontflügen freigestellt und fünfzehn Kilometer tief ins Hinterland geschickt, um Streifenflüge zu üben. Wie sich herausstellt, ist damit gemeint, niedrig über vorrückende Soldaten der Infanterie zu fliegen, auf deren Rücken Spiegel befestigt sind, um dann im Cockpit eine Sirene anzuwerfen und vom Boden Geschützfeuer auf sich zu ziehen, das Position und Stärke verrät. Bengalisches Feuer zeigt an, dass ein Wald eingenommen wurde, Aldislampe, dass man einen Graben, und Huckslampe, dass man eine Batterie erobert hat – oder ist die Aldis für eine Batterie und Hucks für den Wald? Und ist ein Gehölz schon ein Wald? Wie viele Bäume …? Noch während sie die Signale üben und sich die Sirenenabfolge merken, kommt in Serge der Verdacht auf, dass das System nicht ohne Mängel ist. Die über unverminten, unverteidigten Feldern ausgeführten Scheinkämpfe enden jedenfalls meist im Chaos. In der einen Woche, die er dort verbringt, verunglücken drei
Maschinen: Zwei hatten einen Zusammenstoß; die Piloten waren von den Spiegeln geblendet…
Serge fällt das Schlafen schwer. Dabei vermisst er weniger das sanfte Schaukeln des Hausboots als den Lärm der Front, der zu seinem allabendlichen Schlaflied geworden war. Natürlich kann man von hier aus noch die Haubitzen hören, aber sie sind zu weit weg – außerdem wird ihr Lärm übertönt von dem der Crossleys, die Truppen nach Osten bringen: Konvoi um Konvoi rollt am Fenster seiner Baracke vorbei, eine ununterbrochene Nachschubkette. Und die Infanterie marschiert ebenfalls rund um die Uhr; der Rhythmus ihrer Füße beschwört den vorletzten Vers aus dem fünfundsechzigsten Sonett herauf:
Welch starke Hand hält ihre Eile an?
Wer wird die Schönheit ihrem Raub entziehn?
Am Wochenende dann kehrt er zur 104. zurück und jubelt vor Freude, als er die Pappeln, Bessoneau-Hangars und weidenden Kühe unter seinen Flügeln auftauchen sieht, hastet kurz darauf über den Weg durch den Wald (oder durchs Gehölz?) zum Fluss, wirft sich aufs Bett und schlägt Stanleys Buch auf, damit er endlich die Schlusszeilen des fünfundsechzigsten Sonetts mit eigenen Augen lesen kann, obwohl sie sich doch längst fest in sein Gedächtnis eingebrannt haben:
Ach keiner – wenn nicht eines Wunders Kraft,
aus Tinte meiner Liebe Dauer schafft.
»Na? Wann ist denn jetzt der große Tag?«, fragt er Walpond-Skinner.
»Erstens, Karrefax, heißt es ›Na, Sir‹ – genau genommen heißt es sogar ›Bitte, Sir‹.«
»Na bitte, Sir«, korrigiert sich Serge. »Also wann nun…?«
»Und zweitens ist
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