Kabeljau und Kaviar
all ihre Skrupel hatten sie nicht davon abbringen können, ihr Vorhaben in
die Tat umzusetzen. Vielleicht war Tom ja tatsächlich so erschüttert, wie es
den Anschein hatte. Wie viele starke Männer waren schon in Tränen ausgebrochen,
nachdem sie ihren Lieblingshund hatten einschläfern lassen oder ihre Liebste
erstochen hatten?
»Nimm nur Don José«, überlegte Max
laut.
»Wie? Was denn?« wunderte sich Sarah
natürlich.
»Entschuldige. Ich habe bloß gerade
nachgedacht.«
»Über Don José? Du meinst doch nicht
etwa den Don José aus Carmen?«
»Wen sonst?«
»Was hat denn ein liebeskranker Tenor
mit einem Zug voller Menschen zu tun, die vergifteten Kaviar löffeln?«
»Das weiß ich auch nicht. Wie gut
kennst du eigentlich Tom Tolbathy?«
»Überhaupt nicht. Für mich ist er nur
einer von vielen Namen auf Onkel Jems Liste von Saufkumpanen. Ich glaube,
Alexander hat Tante Caroline mal zu einer Benefizveranstaltung oder so hier
draußen chauffiert.«
»Hat er etwa auch zu diesem
Kabeljauclub gehört?«
»Um Gottes willen, natürlich nicht.
Alexander hatte nicht viel übrig für alberne Späße und Streiche. Das solltest
du inzwischen eigentlich wissen.«
»Wieso kommen wir eigentlich früher
oder später immer auf Alexander zu sprechen?«
»Tun wir gar nicht. Du bist lediglich
ein bißchen sauer, weil ich dich nicht die Vaterrolle spielen lasse wie ihn
früher. Aber ich habe in meinem Leben schon zu viele Vaterfiguren ertragen
müssen, ich habe genug davon. Ist das die Auffahrt der Tolbathys? Auf dem
Briefkasten ist eine Lokomotive aufgemalt. Du hast mir übrigens immer noch
nicht gesagt, warum du eben Don José erwähnt hast.«
»Sarah, meine bezaubernde
Herzallerliebste, ich habe wirklich keinen Schimmer, warum ich eben auf Don
José gekommen bin. Wahrscheinlich habe ich bloß im Schlaf gesprochen — ja, das
ist das Tolbathy-Grundstück. Fahr einfach weiter, bis du einen Zug siehst, dann
hältst du an.«
Kapitel
10
»M ax, ich glaube, ich muß jetzt
anhalten.«
»Und warum?« murmelte Max, ohne die
Augen zu öffnen.
»Der Polizist da vorne schneidet
schreckliche Grimassen.«
»Was? Oh!«
Max setzte sich gerade hin, drückte auf
den elektrischen Fensterheber, ließ das Fenster herunter und streckte seinen
Kopf nach draußen. »Guten Abend, Officer. Ich erwarte noch einen weiteren
Beamten vom Gesundheitsamt. Ist er bereits eingetroffen?«
»Nein.« Der Streifenpolizist zögerte
einen Moment und fügte dann ein ›Sir‹ hinzu.
»Verdammt, wieso ist er denn noch nicht
hier? Mrs. Bittersohn, haben Sie Fothergill denn nicht ausdrücklich zu
verstehen gegeben, daß es sich um einen Notfall handelt? Nichts für ungut,
Officer, ich verstehe natürlich, daß es nicht Ihre Schuld ist. Wenn er kommt,
würden Sie ihm dann bitte ausrichten, daß ich nicht warten konnte und schon
vorausgefahren bin? Wissen Sie, wo ich Mr. Tolbathy finden kann?«
»Ich glaube, er ist ins Krankenhaus
gebracht worden, Mr. — «
»Und wo kann ich seinen Hausmeister
finden — Rollo? Im Zug oder im Haus?«
»Das weiß ich leider auch nicht, Sir.«
»In diesem Fall werde ich ihn wohl
selbst suchen müssen. Sie bleiben am besten hier. Sie lassen hoffentlich
niemanden auf das Grundstück?«
Bevor der Polizist sich entschließen
konnte, ob er Bittersohn durchlassen wollte, hatte Sarah schon Gas gegeben und
war an ihm vorbeigefahren. »So macht man das also«, bemerkte sie.
»Na ja, gelegentlich«, räumte Max ein.
»Tolbathy ist also mit den anderen abtransportiert worden. Verdammt, ich frage
mich allmählich, ob überhaupt noch jemand da ist. Du kannst nicht zufällig eine
Lokomotive fahren, Kätzele?«
»Kommt auf den Versuch an.«
»Hoffentlich bleibt uns das erspart. Da
steht sie ja, dort drüben.«
»Vielen Dank für die Information«,
bemerkte Sarah mit zuckersüßer Stimme.
»Wer wird denn gleich eingeschnappt
sein?«
»Nun ja, es ist wirklich ziemlich
schwer, einen Zug zu übersehen, Schatz. Falls du nach Spuren suchen willst,
befürchte ich allerdings, daß du etwas zu spät kommst.«
Eine gebeugte Gestalt erschien gerade
in der offenen Tür des Salonwagens und leerte ein volles Kehrblech in eine
große Mülltonne, die neben dem Trittbrett bereitstand. Rollo, oder wer auch
immer, reinigte offenbar die Abteile.
»Ich suche gar keine Spuren«, sagte
Max. »Falls es irgendwo im Zug noch Kaviarreste gegeben haben sollte, hat die
Polizei sie bestimmt gefunden, bevor sie wieder
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