Kabelsalat: Wie ich einem kaputten Kabel folgte und das Innere des Internets entdeckte (German Edition)
Insbesondere nimmt hier eine Stromleitung mit einer Kapazität von 3100 Megawatt ihren Ausgang, die sogenannte Pacific DC Intertie, die aus Wasserkraft gewonnenen Strom vom Columbia River in den Süden Kaliforniens transportiert – eine Art gigantisches Verlängerungskabel für Los Angeles. Sein Stecker ist das Umspannwerk in Celilo, das von meinem Motelzimmer aus gesehen gleich hinter dem nächsten Hügel lag. The Dalles mag ein kleiner Ort sein, aber man kann nicht behaupten, er liege abseits der ausgetretenen Pfade. Er ist der ausgetretene Pfad: Ein Infrastruktur-Knotenpunkt, der aufgrund der besonderen Lage der Kaskaden und des Columbia River notwendigerweise zum Treffpunkt für Lachse und Siedler, für Eisenbahnlinien, Highways und Stromleitungen wurde – und, wie sich zeigen sollte, auch für das Internet.
Ich war nach The Dalles gekommen, weil diese Stadt der Standort eines der größten Datenlager des Internets ist, und die inoffizielle Hauptstadt einer Region, in der unser virtuelles Selbst gespeichert ist. Für mich war der Ort so etwas wie das Kathmandu der Rechenzentren, eine Stadt im Nebel am Fuße eines Berges, die zugleich der perfekte Ausgangspunkt für die Erkundung der riesigen Gebäude war, in denen unsere Daten gespeichert sind. Mehr noch: Als natürlicher Knotenpunkt war The Dalles geheimnisvoll und mysteriös genug, um ein Schlaglicht auf die seltsame Macht jener Gebäude zu werfen. Rechenzentren enthalten nicht nur die Festplatten, auf denen unsere Daten gespeichert sind. Unsere Daten sind zum Spiegelbild unserer Identität geworden, zur physischen Manifestation höchst privater Fakten und Gefühle. Rechenzentren sind die Lagerhäuser unserer digitalen Seele. Die Vorstellung, dass diese Rechenzentren hoch oben in den Bergen versteckt waren wie Zauberer – oder wie Sprengköpfe –, gefiel mir. Und noch etwas mochte ich an der Kathmandu-Analogie: War ich nicht auf der Suche nach Erleuchtung, nach einem neuen Blick auf mein digitales Selbst?
Bis jetzt hatte ich mich hauptsächlich auf Internetknoten konzentriert: auf die zentralen Drehkreuze, jene Orte, wo die einzelnen Netze sich zu einem »Internet« verbinden. In meinem Kopf hatten sich immer mehr Bilder von Wellblechgebäuden, gelben Glasfaserkabeln und Kellergewölben angesammelt. Rechenzentren waren auf dieser Reise eine ganz andere Herausforderung. Sie schienen völlig ortsungebunden zu sein. Als ich darüber nachdachte, kam mir ein schematischeres Bild des Internets in den Sinn, ein Gebilde aus zwei an der schmalsten Stelle verschmolzenen Trichtern, eine Art siamesische Vuvuzela. Die Internetknoten bilden die engste Stelle in der Mitte. Von ihnen gibt es nur wenige, aber das sind die Nadelöhre, durch die am meisten Traffic fließt. Der eine Trichter ist das Einfallstor für uns alle: für Milliarden auf der ganzen Welt verstreute Nutzer. Der andere Trichter ist der Zugang zu den Gebäuden, in denen unsere Daten gelagert und verwaltet werden. Rechenzentren sind das, was am anderen Ende des Kabelsalats liegt. Nur dank des Dickichts aus Netzwerken, das die ganze Welt überzieht, können sie an völlig abgelegenen Orten stehen.
Früher hatten wir unsere Daten alle auf unseren eigenen Festplatten gespeichert, aber mehr und mehr geben wir diese Verantwortung an professionelle Dienste ab. An die Stelle der »Festplatte« – bei der schon der Name auf etwas Greifbares verweist – ist die »Cloud« getreten, ein vager Sammelbegriff für all die Daten und Dienste, die irgendwo da draußen im Internet zu Hause sind. Aber diese Cloud hat natürlich so gar nichts Wolkiges. Einem Bericht von Greenpeace aus dem Jahr 2011 zufolge gehen mittlerweile zwei Prozent des weltweiten Stromverbrauchs auf das Konto von Rechenzentren. Und deren Stromverbrauch steigt jedes Jahr um zwölf Prozent. Ein nach heutigen Standards großes Rechenzentrum ist ein Gebäude mit einer Fläche von bis zu 45 000 Quadratmetern, das 50 Megawatt Strom verbraucht – etwa so viel wie die Straßenbeleuchtung einer mittleren Großstadt. Die größten Rechenzentren bilden jedoch einen »Campus« aus bis zu vier solchen Gebäuden, die eine Gesamtfläche von mehr als 90 000 Quadratmetern haben – das entspricht etwa zehn Wal-Marts oder dreizehn Fußballfeldern. Wir haben gerade erst angefangen, Rechenzentren zu bauen, aber schon jetzt summiert sich ihr Energieverbrauch zu enormen Mengen. 48
Ich weiß, wovon ich spreche, denn ein nicht unerheblicher Teil dieser Daten stammt von
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