Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
Besprechungsraum
Samstag, 6. Januar, 15:00 Uhr
In Anbetracht der Pressekonferenz, die in der Eingangshalle des Betriebsgebäudes stattfand, hatte sich der Besprechungsraum merklich geleert. Andreas saß über seine Wetterkarten gebeugt und schlürfte Kaffee. Grübelnd erwog er, welches Wettermodell die derzeitige Lage am besten im Griff hatte und auf welches man sich am ehesten verlassen konnte. Die relative Windstille morgen Vormittag wurde nicht von allen Prognosemodellen gestützt. Einige sahen sogar eine Verstärkung des Sturms, dafür ein deutliches Abschwächen in den Nachmittagsstunden.
Andreas seufzte. Vielleicht sollte er auf den nächsten Modelllauf warten. Dieser würde in zwei bis drei Stunden zur Verfügung stehen. Genug Zeit, sich einem anderen Thema zu widmen: der Lawinengefahr.
Andreas überlegte erneut, sich den Hang bei der Seilbahn in natura anzusehen. Allerdings war die Sicht durch den Blizzard stark eingeschränkt; nach einem Blick aus dem Fenster schätzte er die aktuelle Sichtweite auf zweihundert Meter. Viel zu wenig, um sich im Gelände einen Überblick zu verschaffen.
Somit blieben ihm nur sein Kartenmaterial, die Geodaten und Luftbilder, die er von der Seilbahn GmbH erhalten hatte. Es sah danach aus, als wäre der südostseitig ausgerichtete Bergrücken des Pengelstein durch den Nordweststurm prädestiniert für massive Triebschneeablagerungen. Durch die zu erwartenden Neuschneemengen würde die Lawinengefahr bis morgen Vormittag das zweithöchste Level, Lawinenwarnstufe vier, erreichen. Ein Kriterium für diese Warnstufe war eine schwach verfestigte Schneedecke, die bereits bei geringer Zusatzbelastung die Entstehung von Lawinen wahrscheinlich werden ließ. Mehr noch: Ab Warnstufe vier konnten Lawinen spontan abgehen, also ohne jeden menschlichen Einfluss.
Andreas’ Erinnerungen an die Gewitterfront kehrten zurück. Schlagartig, ohne Vorwarnung. Drohende, wabernde Finsternis. Verästelte, zuckende Blitze. Animalisches Dröhnen und Grollen.
Bei Lawinenwarnstufe fünf gingen die meisten Schneerutschungen spontan ab. Große, verheerende Lawinen konnten dann selbst an Hängen auftreten, die gewöhnlich nicht als gefährdet galten. Sie brausten mit ohrenbetäubendem Getöse talwärts, rissen alles mit sich, was sich ihnen in den Weg stellte. Möglicherweise bloß wegen einer einzigen Schneeflocke. Einem federleichten, gebrechlichen Eiskristall, der auf der fragilen Schneedecke landete und damit die Katastrophe auslöste.
Eine winzige, unbedeutende Schneeflocke
, dachte Andreas beklommen.
Mehr nicht
.
Schiregion Kitzbühel, 3S-Bahn, Kabine 14
Samstag, 6. Januar, 15:05 Uhr
„Wie geht es ihr?“
Doris fuhr zusammen und wandte den Kopf. Ihr war entgangen, wie sich Sebastian neben sie gesetzt hatte. Trotz der Schischuhe, die er trug, musste er sich geräuschlos über den Wellblechboden bewegt haben.
„Samantha hat seit über einer Stunde kein Wort gesprochen“, erwiderte Doris leise. Ihre Stimme zitterte leicht. Mittlerweile war ihr trotz dicker Thermo-Unterwäsche die Kälte in die Glieder gekrochen.
Als sie sich in Sebastians Richtung neigte, stieg ihr der Geruch seines Rasierwassers in die Nase. Es war ein herber, männlicher Duft, den sie spontan mit einer wilden, kräuterreichen Steppenlandschaft assoziierte. Ein unerhört anziehendes Aroma.
Sebastian beugte sich über sie hinweg. Dabei drückte er ihr eine weitere Welle seines Wohlgeruchs entgegen. Doris spürte Hitze in sich aufsteigen und presste unwillkürlich ihre Schenkel aneinander.
„Samantha“, sagte Sebastian. „Deine Mama hat mir gesagt, dass du gern in den Zirkus gehst.“
Unwillig wandte sich die Sechsjährige dem Liftbediensteten zu. Ihre Gesichtsfarbe wirkte ungesund, sie hatte die Arme vor dem Bauch verschränkt und saß nach vorn geneigt, als würde sie schmollen. „Ja“, entgegnete Samantha. Ihre Mimik zeigte keine Anzeichen von Begeisterung.
„Was hast du denn am liebsten?“
Samantha warf Sebastian einen misstrauischen Blick zu. „Die Zauberer“, sagte sie dann.
„Ach so?“ Sebastian zog die Augenbrauen hoch. „Was für ein Zufall, ich bin nämlich Zauberer.“
„Wirklich?“ Samantha legte den Kopf schief.
„Ja.“ Sebastian zog sein Kartenspiel aus der Tasche, nahm eine Karte heraus und zerriss sie mit einer schnellen Handbewegung. Er wand die beiden Teile geschickt zwischen seinen Fingern, drehte die Handfläche – und die Karte war wieder ganz.
Samantha stand vor Überraschung der
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