Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
verkrampft. Sie hätte der jungen Frau ihren Apfel geben sollen. Sonja benötigte ihn dringender als sie. Aber Michelle hatte ihr die Bonbons gegeben. Das musste doch reichen, oder? Außerdem war es ihr eigener Apfel, verdammt! Sie hatte seit mehr als vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen. Inzwischen spürte sie den nagenden Hunger so stark wie schon lange nicht mehr.
Doris’ Blick fiel auf ihre Handschuhe. Sie zog einen Fäustling aus und betrachtete ihre zartgliedrigen Finger. Da, direkt unter ihrem Handgelenk: Sah das nicht wie eine Ansammlung von Fett aus?
Ja, ganz bestimmt!
Doris spitzte die Lippen. Sie würde mit dem Apfel auskommen. Notfalls bis morgen.
Seilbahn GmbH Kitzbühel, Eingangshalle
Samstag, 6. Januar, 15:45 Uhr
Drei volle Jahre
, dachte Franz betroffen. So lange waren sie sich nicht begegnet, hatten kein Wort miteinander gesprochen. Er hatte alle Gedanken an sie verbannt, ausgeblendet, wie ein unerwünschtes Programmfenster am Computer.
Stefanies melancholisches Lächeln war unverändert, ebenso ihre dunklen, kinnlangen Haare. Weiterhin bestach sie durch ihr natürliches, jugendliches Aussehen. Sie wirkte wie kaum Ende zwanzig, obgleich sie inzwischen Mitte dreißig sein musste. Nach wie vor war sie eine Schönheit.
Franz spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Seine Hände zuckten, als hielten sie jäh erwachende Alarmwecker zwischen den Fingern. Wenn er noch länger hier stand und Stefanies Blick ertragen musste, würde er zu Boden stürzen und sich in Krämpfen winden. Das wäre dann wohl das Ende seiner beruflichen Karriere.
Trotz seiner Verblüffung verzog er keine Miene und antwortete umgehend auf Stefanies Frage. „Unsere Experten haben sich die Bedingungen angesehen. Die Temperaturen liegen zwar im Minusbereich, werden aber nicht viel tiefer sinken. Auch bietet die Kabine guten Schutz vor dem Sturm. Sofern die Passagiere angemessen gekleidet sind, ist die Gefahr von Erfrierungen gering.“
Franz wandte sich zur Seite und winkte Georg herbei. Der glatzköpfige Hüne schien irritiert, als er sich erhob. Gewöhnlich entsprach es nicht Franz’ Wesen, die leitende Funktion einem anderen zu überlassen; schon gar nicht seinem Stellvertreter. „Meine rechte Hand, Georg Semmelweis, wird Ihnen alle weiteren Fragen beantworten. Guten Abend.“
Mit diesen Worten drehte er sich um und stapfte in Richtung seines Büros. Er brauchte etwas, um seine zitternden Hände zu beruhigen. Sofort.
Schiregion Kitzbühel, 3S-Bahn, Kabine 14
Samstag, 6. Januar, 15:55 Uhr
„Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten“, sagte Sebastian. Obwohl er seine Stimme nicht erhob und auch andere Gespräche im Gange waren, verstummten die übrigen Fahrgäste sofort. „Es deutet alles darauf hin, dass wir heute nicht mehr gerettet werden.“
Stille.
Sandra stieß ein hohes, halb unterdrücktes Keuchen aus, Henrik brabbelte irgendetwas, das keiner verstand, und Samantha fing an zu wimmern.
„Die werden uns doch nicht die Nacht hier hängen lassen!“, fuhr Emma auf.
Sebastian schüttelte sacht den Kopf. „Ich sehe keine Alternative. Weder Bergewagen noch Helikopter können bei Nacht und in diesem Blizzard eingesetzt werden. Auch sieht es nicht danach aus, als würde der Antrieb der Seilbahn in absehbarer Zeit wieder funktionieren.“
„Warum haben die uns nicht früher geholt?“ Sandras Stimme war schrill. Zu schrill. Emma argwöhnte, dass die junge Frau am Rande einer Panik stand. Sie forschte in ihren eigenen Gedanken und Gefühlen. Im Gegensatz zum Beginn des Dramas vor einigen Stunden war sie überraschend ruhig.
Emma handelte instinktiv. Sie legte ihren Arm um Sandras Schultern und drückte das Mädchen an sich. Im ersten Moment wich die junge Frau zurück, sträubte sich gegen die Berührung. Doch dann erlahmte ihre Gegenwehr. Sie senkte den Kopf gegen Emmas Nacken, atmete tief aus und ein.
„Als der Blitz in die Gondel eingeschlagen hat“, sagte Emma leise. „Was kann da passiert sein?“
Matteo kam Sebastian zuvor. „Nichts“, entgegnete er scharf und funkelte Emma an. „Es gibt keinen einzigen Fall in der Geschichte der Luftseilbahn, bei dem ein Blitz ein Stahlseil beschädigt hätte. Sei nicht immer so ängstlich!“ Diesmal nahm Emma ihrem Mann den scharfen Tonfall nicht übel. Er war genauso angespannt wie alle anderen. Es war bloß sein Weg, den Überschuss an Adrenalin zu bewältigen.
„Das ist richtig“, bestätigte Sebastian. „Ich glaube nicht, dass hier Gefahr
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