Kaelter als dein Grab
trauen?
Die Frage nagte noch immer an ihm, während er von seinem Sitz hinunterglitt, ausstieg und Leigh die Beifahrertür öffnete. Er brauchte nur einen Blick in ihr Gesicht zu werfen, um zu begreifen, dass sie große Schmerzen hatte. Dass sie verängstigt war. Er betete, dass ihr blasser Teint kein Anzeichen einer starken Blutung oder eines ernsten Schocks war.
„Komm her, Kleine.“ Noch bevor er registrierte, dass er nach ihr griff, lag sie schon in seinen Armen.
„Du musst mich nicht tragen“, sagte sie.
„Es ist besser, wenn du dich nicht zu viel bewegst, bevor ich diese Wunde untersucht habe.“
Obwohl es noch keine fünf Uhr war, herrschte draußen bereits fast Dunkelheit. Der Schnee fiel immer dichter vom grauen Himmel. Der Wind war stärker geworden, und Jake hörte ihn um das alte Getreidesilo heulen. Sie brauchten Schutz vor der Kälte, dem Sturm und dem Schnee. Er erblickte die Tür zu dem ehemaligen Büro und steuerte darauf zu.
Zu seiner Überraschung war die Tür nicht abgeschlossen. Er drückte sie mit seinem Stiefel auf. Zu seiner Linken befand sich ein staubiger Tresen. Direkt vor ihnen bedeckten vom Alter verkrümmte hölzerne Regalbretter die Wand. Ein Fenster mit einem Riss in der Mitte zeigte zu der Ladezone, wo man die Laster früher beladen und gewogen hatte.
„Lass den Pagen unsere Sachen hereinbringen.“
Er sah sie besorgt an. War sie etwa schon ins Delirium gefallen?
„Das war ein Witz“, erklärte sie.
Jake lachte nicht. „Kannst du stehen?“
„Natürlich kann ich das.“
In ihr Gesicht war ein bisschen Farbe zurückgekehrt. Bis zu diesem Moment war er wegen ihres gesundheitlichen Zustands viel zu besorgt gewesen, um zu registrieren, wie gut sie sich in seinen Armen anfühlte. Doch als er in ihre kristallblauen Augen sah, traf ihn die Erkenntnis mit voller Wucht.
Sie war klein und anschmiegsam, und sein Körper reagierte auf ihre Nähe, wie er es immer getan hatte. Vor sechs Jahren war er nicht in der Lage gewesen, ihr zu widerstehen. Während sie tagelang in ihrem Versteck ausharren mussten, war die gegenseitige Anziehung rasch außer Kontrolle geraten – und hatte sich in etwas Magisches verwandelt. Er wusste, dass sie ihm nicht vergeben hatte. Doch ob richtig oder falsch – die starke Anziehung bestand noch immer. Und ebenso die Magie.
Statt sich in einer Situation zu verfangen, die sie beide nur verletzen würde, trug er Leigh zu dem Tresen und setzte sie vorsichtig ab, sodass sie auf die Füße kam. Argwöhnisch wartete er auf ein Schwanken oder Taumeln, doch sie stand mit gestrafften Schultern und erhobenem Kinn da.
„Falls du darauf wartest, dass ich zusammenbreche – das wird nicht geschehen“, sagte sie.
„In dem Fall lasse ich dich hier jetzt stehen und hole den Erste-Hilfe-Kasten.“
„Jake, es geht mir gut.“
Er nahm an, dass ihr nicht klar war, wie viel Blut sie verloren hatte, weil sich die Schusswunde am Rücken befand. „Wenn eine Kugel in dir steckt, fahren wir ins Krankenhaus.“
„Dann könnten wir Rasmussen auch gleich eine Einladung schicken, uns umzubringen.“
„Man darf Schusswunden nicht unterschätzen, Leigh. Das weißt du.“
Sie wandte sich von ihm ab, doch er hatte gesehen, dass sie erneut blass geworden war. „Zieh deine Jacke aus“, sagte er. „Leg sie dir über die Schultern, damit du nicht auskühlst. Ich komme gleich mit dem Kasten zurück.“
Als Jake zum Wagen lief, um den Erste-Hilfe-Kasten zu holen, blies ihm der Sturm den Schnee von der Seite entgegen. Das schlechte Wetter war ein zweifelhafter Segen. Einerseits würde es ihre Reifenspuren verdecken und Rasmussens Männer bei deren Suche behindern. Andererseits, falls er Leigh ins Krankenhaus bringen musste oder sie gezwungen wären, den Ort rasch zu verlassen, würde der Schnee auch ihre Fahrt erschweren.
Mit dem Erste-Hilfe-Kasten, einer Decke, den letzten beiden Flaschen Wasser und einer Taschenlampe kehrte Jake zurück. Als er das ehemalige Büro betrat, hatte Leigh gerade den Tresen abgeräumt und drehte sich zu ihm um.
Bei ihrem Anblick fiel ihm ein, dass sie ihr Shirt würde ausziehen müssen, damit er sich die Wunde anschauen konnte. Nun, da die Rollen vertauscht waren und Leigh die Verletzte war, verursachte ihm der Gedanke, dass sie sich vor ihm ausziehen musste, ebenso viel Unbehagen, wie als er das Gleiche vor ihr tun musste. Er schwor sich, dass der Anblick ihres Körpers ihn nicht aus der Fassung bringen würde.
Dennoch errötete er,
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