Käptn Snieders groß in Fahrt
,e‘. Und so was nennt sich Lehrer! Na ja, Herr Heinecke kommt ja hoffentlich bald wieder, damit diese Zustände hier aufhören.“
Käpten Snieders wischte den Satz ab und ging langsam aus der Klasse. Er ärgerte sich und hielt sich für sehr dumm. Vor Frau Besenhoff aber zog er innerlich die Mütze. Schreibversuche unternahm er nie wieder.
Die asiatische Grippe griff um sich.
Aus Hude wurden drei Todesfälle gemeldet und aus Delmenhorst sogar sieben. Herr Heinecke lag immer noch im Krankenhaus. Er fieberte stark, und keiner konnte Vorhersagen, ob und wann er wieder gesund werden würde.
Seinen vielen Kollegen im Lande Oldenburg erging es nicht besser. In manchen Orten hatten die Kinder schon über vier Wochen Ferien, weil sich niemand fand, der unterrichten konnte. Käpten Snieders mußte also weiterhin Schule halten.
Er hatte sich über den ärgerlichen Zwischenfall mit Frau Besenhoff vor der Wandtafel getröstet und erzählte immer noch seine erstaunlichen Geschichten einem gespannt lauschenden Publikum. Wolfgang unterrichtete die Kleinen im Lesen und Schreiben, Heini korrigierte die Aufsätze und Diktate, und Kluten turnte mit den Kindern auf der Schulwiese, daß es nur so eine Art hatte. Lutz Lehmann rechnete, Ludwig Reiners zeichnete, und Lott war der bravste Hund der Welt, auch wenn er gelegentlich durch das Fenster sprang oder den Kartenständer umstieß. Minna hockte auf dem Schrank oder der Fensterbank, stahl hin und wieder einen Federhalter, wenn er ihr gar zu verlockend unter den Schnabel gehalten wurde, war aber sonst ein sehr verträglicher Vogel. Fast alle Kinder hatten ein verantwortungsvolles Amt übernommen und gaben ihr Bestes, um den alten Lehrer nicht zu enttäuschen.
Einen Tag vor den Herbstferien bekam Wolfgang wieder Post, gleich zwei Briefe, einen erfreulichen von seinem Bruder und einen schlimmen von seiner Mutter.
Sein Bruder teilte ihm mit, daß er am dreißigsten September, in drei Tagen also, nach Wilhelmshaven käme, dort sechs Stunden Freizeit hätte und ihn, Wolfgang, gerne sehen würde. Eine Fahrt nach Bremen sei wegen der knappen Zeit leider nicht möglich. Die Mutter schrieb ihm kurz, daß die Scheidung ausgesprochen sei, er nun ihr gehöre und Hans zum Vater gehen müsse.
„So ist es für uns alle am besten“, schrieb sie. „Ich komme, wenn die Ferien anfangen, und hole dich ab.“
Wolfgang begriff zuerst gar nichts von dem Text. Aber nach und nach wurde ihm seine böse Bedeutung klar. Er sollte den Vater und den Bruder verlieren, und seine Mutter sagte dazu, das sei das beste für alle!
„O nein, Mutter“, sagte er leise, während ihm vor Erregung ganz heiß wurde, „für mich ist es das Allerschlechteste, das Allerallerschlechteste.“
Er legte den Kopf auf den Arm und war grenzenlos unglücklich. So fand ihn seine Tante, als sie von der Schule nach Hause kam. Ihre Adleraugen entdeckten sofort die beiden Briefe auf dem Tisch. Hastig überflog sie sie und machte auch schon den Mund auf, um ein paar tröstende Worte zu sagen.
„Sei froh, Junge“, begann sie, „daß der besoffene Kerl nicht mehr in eure Nähe kommt! So habt ihr doch alle eure Ruhe. Und deinen Bruder, na, den kannst du ja hin und wieder mal besuchen, kannst du den. Nun wasch dir mal die Hände, wir wollen Kaffee trinken.“ Punktum, Schluß. Damit war die Sache für sie abgetan. Wolfgang warf ihr einen Blick zu, der sie hätte töten können und stürzte aus der Tür.
Sie taugen alle nichts, die Weiber, dachte er verzweifelt, denken nur an ihre Ruhe und ihr Bestes.
Er lief über den Deich und mit Schuhen und Strümpfen durch den Weserarm. An der Stelle, wo er mit Max und Rudi die Aale geräuchert hatte, warf er sich ins Gras und versuchte, mit der schrecklichen Zukunft fertig zu werden. Aber es gelang ihm nicht. Da hörte er plötzlich den letzten Satz seiner Tante so deutlich nachklingen, als spräche sie ihn noch einmal: „Und deinen Bruder, na, den kannst du ja hin und wieder mal besuchen, kannst du den.“
Er setzte sich hin, von einem Gedanken elektrisiert.
Ich werde Hans besuchen!
Wenn er nach Wilhelmshaven kommt, bin ich da und kann sechs Stunden mit ihm zusammen sein! Diese Vorstellung machte ihn fast wieder froh. Er zog sein Portemonnaie aus der Tasche und zählte sein Geld. Zwei Mark siebzig waren darin. Das reichte nicht für die Bahnfahrt, nicht mal für eine Strecke, zumal er ja den weiten Weg über Oldenburg nehmen mußte.
Was war zu tun? Die Tante um Geld bitten?
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