Kafka am Strand
euch gut ist, ist es das auch für mich.«
Oshima rollte sein Zitronenbonbon im Mund herum.
»Doch im Moment ist es für dich und für Saeki-san besser, wenn ihr für eine Weile getrennt seid. Das hat nicht einmal etwas mit dem blutigen Ereignis in Nakano-Nogata zu tun.«
»Mit was denn sonst?«
»Sie befindet sich jetzt in einer sehr kritischen Zeit.«
»Kritisch?«
»Saeki-san –«, Oshima sucht nach Worten. »Also einfach ausgedrückt: Sie ist im Begriff zu sterben. Ich weiß es. Ich spüre es schon die ganze Zeit.«
Ich nehme meine Sonnenbrille ab und sehe Oshima von der Seite an. Er fährt, den Blick geradeaus gerichtet. Wir sind eben auf die Autobahn in Richtung Kochi abgebogen. Ausnahmsweise bewegt sich der Wagen unter Einhaltung der Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Fahrspur. Geräuschvoll rast ein schwarzer Toyota Supra an unserem Roadster vorbei.
»Sie ist im Begriff zu sterben …«, sage ich. »An einer unheilbaren Krankheit? Wie Krebs oder Leukämie?«
Oshima schüttelt den Kopf. »Kann sein, kann aber auch nicht sein. Ich habe keine Ahnung von ihrem Gesundheitszustand. Vielleicht hat sie so ein Leiden. Nicht auszuschließen, oder? Aber ich frage mich, ob es nicht eher um seelische Dinge geht. Um etwas, das mit ihrem Willen zu leben zu tun hat.«
»Sie meinen, sie hat ihren Lebenswillen verloren?«
»Ja, so etwas in der Art. Sie hat den Willen weiterzuleben verloren.«
»Glauben Sie, sie wird Selbstmord begehen?«
»Eigentlich nicht«, sagt Oshima. »Sie schreitet nur langsam und ruhig auf ihren Tod zu. Oder der Tod kommt auf sie zu.«
»Wie ein Zug auf den Bahnhof zufährt?«
»So ähnlich.« Oshima bricht ab und presst die Lippen aufeinander. »Und nun, mein Lieber, bist du aufgetaucht. Cool wie eine Gurke, geheimnisvoll wie Kafka. Und ihr fühlt euch zueinander hingezogen und habt – um einen klassischen Ausdruck zu gebrauchen – beschlossen, ein Verhältnis miteinander einzugehen.«
»Und?«
Oshima nimmt für einen Moment die Hände vom Lenkrad. »Das ist alles.«
Ich schüttele langsam den Kopf. »Ich glaube, Herr Oshima, Sie meinen, ich wäre dieser Zug. «
Oshima schweigt lange. »Ganz genau«, gibt er zu. »Du hast Recht. Das meine ich.«
»Sie glauben, ich werde Saeki-sans Tod herbeiführen, nicht wahr?«
»Aber ich verurteile dich deswegen nicht«, sagt er. »Eher glaube ich, dass es gut so ist.«
»Warum?«
Darauf gibt Oshima mir keine Antwort. Das musst du selbst herausfinden, sagt sein Schweigen. Oder Darüber braucht man doch nicht nachzudenken.
Ich schließe die Augen und lasse mich in den Sitz sinken. Mir wird schwach.
»Herr Oshima?«
»Ja?«
»Ich weiß überhaupt nicht, was ich machen soll. Ich weiß nicht, wohin ich mich wenden soll. Was richtig und was falsch ist, ob ich vorwärts gehen soll oder lieber umkehren.«
Oshima schweigt beharrlich.
»Was soll ich denn nur tun?«, frage ich.
»Am besten gar nichts«, erwidert er knapp.
»Überhaupt nichts?«
Oshima nickt. »Deshalb bringe ich dich ja in die Berge.«
»Aber was soll ich in den Bergen machen?«
»Dem Wind lauschen«, sagt er. »Das mache ich auch immer.«
Ich denke über seine Worte nach.
Oshima streckt die Hand aus und legt sie liebevoll auf meine.
»Das ist doch alles nicht deine Schuld. Und meine auch nicht. Es liegt auch nicht an der Prophezeiung oder an einem Fluch. Es ist weder die Schuld der DNA noch des Absurden, auch nicht die des Strukturalismus oder der dritten industriellen Revolution. Dass wir alle zugrunde gehen und verloren sind, liegt daran, dass die Welt an sich auf Vergänglichkeit und Verlust beruht. Unsere Existenz ist nicht mehr als ein Schattenriss dieses Prinzips. Der Wind weht. Es gibt stürmische, starke Winde und angenehme, sanfte Brisen. Aber jeder Windhauch geht irgendwann verloren und verschwindet. Wind hat keine Substanz. Wind ist nicht mehr als ein Überbegriff für die Bewegungen der Luft. Spitz die Ohren, und du verstehst diese Metapher.«
Ich drücke Oshimas Hand. Eine weiche, warme Hand. Glatt, geschlechtslos, von schlanker Eleganz.
»Herr Oshima«, sage ich. »Es ist besser, wenn ich Saeki-san jetzt nicht sehe, ja?«
»Ja, mein lieber Kafka. Es ist besser, wenn du für eine Weile von ihr getrennt bist. Sie allein lässt. Sie ist klug und stark. Lange hat sie große Einsamkeit ertragen und mit grausamen Erinnerungen gelebt. Sie besitzt die Fähigkeit, in Ruhe und allein zu entscheiden.«
»Letzten Endes bin ich ein Kind und störe sie nur, nicht
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