Kafka am Strand
ehrlich.
»Für Schubert braucht man Übung. Als ich seine Musik zum ersten Mal gehört habe, fand ich sie auch sterbenslangweilig. Das ist in deinem Alter ganz natürlich. Aber inzwischen habe ich gelernt, sie zu verstehen. Die aufregenden Dinge auf der Welt hat ein Mensch sehr schnell satt, und die Dinge, derer er nicht überdrüssig wird, sind meist langweilig. Zwar gibt es in meinem Leben langweilige Perioden, Überdruss jedoch empfinde ich nicht. Die meisten Menschen können beides nicht voneinander unterscheiden.«
»Als Sie sich vorhin als ›anders‹ bezeichnet haben, haben Sie da Ihre Krankheit gemeint?«
»Das auch«, sagt er. Dann sieht er mich an und lächelt. Es liegt etwas Diabolisches in diesem Lächeln. »Aber das ist nicht alles. Es gibt da noch etwas.«
Als Schuberts himmlisch lange Sonate zu Ende ist, hören wir keine Musik mehr. Oshima verfällt in Schweigen und hängt seinen Gedanken nach. Ich schaue geistesabwesend auf die Schilder. Nachdem wir an einer Kreuzung nach Süden abgebogen sind, erreichen wir das Gebirge, und ein langer Tunnel nach dem anderen tut sich vor uns auf. Oshima konzentriert sich aufs Überholen, denn auf dieser Strecke sind viele, sehr langsam fahrende große Lastwagen unterwegs. Eine ganze Reihe von ihnen lassen wir hinter uns. Sooft wir einen überholen, zischt es. Ein Ton, als reiße man aus etwas die Seele heraus. Von Zeit zu Zeit drehe ich mich um, um mich zu vergewissern, dass mein Rucksack noch auf dem Gepäckträger ist.
»Der Ort, zu dem wir fahren, liegt mitten im Gebirge, und man kann nicht gerade sagen, dass er zum Wohnen sehr komfortabel ist. Du wirst vielleicht, solange du dort bist, keinen Menschen zu Gesicht bekommen. Radio, Fernsehen und Telefon gibt es auch nicht«, erklärt mir Oshima. »Macht dir das etwas aus?«
Nein.
»Du bist es gewöhnt, allein zu sein«, sagt Oshima.
Ich nicke.
»Allerdings gibt es verschiedene Arten von Einsamkeit. Die dortige ist vielleicht von einer Art, wie du sie nicht erwartest.«
»Wieso?«
Oshima legt einen Finger an den Steg seiner Brille. »Ich kann es nicht sagen, das hängt von dir ab.«
Wir biegen von der Autobahn auf eine Landstraße ab. Ein Stück hinter der Ausfahrt kommen wir in einen kleinen Ort mit einem Supermarkt direkt an der Straße. Oshima hält an und kauft eine Tüte mit Lebensmitteln – Gemüse, Obst, Kräcker, Milch, Mineralwasser, Dosen, Abgepacktes, kaum etwas, das man zubereiten muss, hauptsächlich Sachen, die man ohne viel Aufwand essen kann. Wieder bezahlt er. Als ich mein Geld hervorziehe, schüttelt er wortlos den Kopf.
Wir steigen wieder ein und fahren weiter. Die Tüte mit den Lebensmitteln nehme ich auf den Schoß, da der Kofferraum nicht ausreicht. Hinter dem Ort wird die Straße stockdunkel. Wir treffen auf keine menschlichen Behausungen mehr und auch kaum auf andere Wagen. Die Straße ist nun so schmal, dass ein entgegenkommender Wagen zum Problem würde. Doch Oshima rast, das Fernlicht eingeschaltet, mit fast unverminderter Geschwindigkeit weiter. Er tritt nur häufiger aufs Gas oder auf die Bremse und schaltet ständig zwischen dem zweiten und dritten Gang hin und her. Aus seinem Gesicht sind jede Regung und jeder Ausdruck verschwunden. Mit zusammengepressten Lippen konzentriert er sich, den Blick starr in die Dunkelheit gerichtet, ganz auf die Straße. Seine rechte Hand ruht auf dem Lenkrad, die linke auf dem kurzen Schaltknüppel.
Bald tut sich links neben der Straße ein steiler Abgrund auf. Unten scheint ein Gebirgsbach zu fließen. Die Kurven werden immer enger und der Asphalt immer rutschiger. Der hintere Teil des Wagens schlittert geräuschvoll, aber ich beschließe, nicht an die Gefahr zu denken. Hier einen Unfall zu haben gehört gewiss nicht zu den Optionen von Oshimas Leben.
Nach meiner Uhr ist es fast neun. Als ich das Fenster ein wenig öffne, weht ein kühler Luftzug hinein. Auch die Geräusche in der Umgebung sind anders. Wir befinden uns mitten in den Bergen und fahren immer weiter hinein. Endlich führt die Straße vom Abgrund fort (was mich doch ein bisschen erleichtert) und in den Wald. Unheimlich ragen hohe Bäume um uns in die Höhe. Die Scheinwerfer des Wagens gleiten über ihre dicken Stämme, als würden sie sie der Reihe nach ablecken. Der Asphalt ist längst zu Ende, und die Reifen knirschen über Kies, der mit einem trockenen Geräusch gegen den Wagen spritzt. Der Wagen tanzt wild über die raue Piste. Weder Mond noch Sterne sind zu sehen.
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