Kains Erben
Aushalten!«, rief Magdalene. »Wenn wir schon nicht bei ihnen sein dürfen – können sie dann nicht wenigstens beieinander sein?«
Wieder zuckte Hugh mit der Schulter und legte seinen Arm um Magdalene. So saßen sie für lange Zeit still beieinander und waren ratlos, aber nicht allein.
Am Abend desselben Tages kam Herr Matthew zurück und war außer sich, als er bemerkte, dass die Amsel nicht mehr da war.
26
I
st es wegen Deborah, dass du nicht mehr aus dem Zimmer kommst?«
Amicia fuhr auf und sah Vyves in der Tür ihrer Kammer stehen. Sie ließ den Kopf wieder sinken und schwieg.
»Sie wird dir nicht mehr zusetzen«, sagte Vyves. »Es tut ihr leid.«
»Hat sie mit dir gesprochen?«
»Ja.«
»Und du?«
»Ich habe ihr gesagt, dass ich sie nicht heiraten kann.«
Erleichterung und Erschrecken jagten wie zwei Blitze durch ihren Leib. Sie würde Vyves nicht verlieren. Aber sie würde für das verantwortlich sein, was Vyves verlor. Die Ungeheuerlichkeit seines Opfers enthüllte sich ihr in einem einzigen Augenblick. Es war zu viel. Sie durfte es nicht annehmen. »Aber was wird denn …«, begann sie und brach ab.
»Ich werde mit Samuel Crespin über sie sprechen«, sagte Vyves. »Er hat viele Verbindungen, kennt Familien, die Gattinnen für ihre Söhne suchen. Und Deborah ist eine so schöne Frau …«
»Das ist sie wahrhaftig!«, rief Amicia. »Vyves, willst du sie wirklich aufgeben? Willst du alles aufgeben, ohne dass … ohne dass wir beide wissen, was wird?«
Er kam zu ihr und setzte sich neben sie auf das Bett. Zart hob er ihr Kinn. Seine Augen hatten die Farbe des gestohlenen Bernsteins. Als Kind hatte sie kaum etwas so gern getan, wie in diese hellen Augen zu sehen. »Mach dir um mich keine Sorgen«, sagte er. »Weißt du nicht mehr, was ich zu dir und Abel gesagt habe?«
Sie wusste es noch. Und wie sie es wusste! Seit sie ihn und ihre Erinnerung wiederhatte, sah sie es vor sich, als sei es gestern gewesen. Ihren Bruder, der bekümmert den Kopf schüttelte und Vyves erklärte: »Du kannst nur Amicia wählen oder dein Volk.«
Und dann Vyves, der aufstand und die Entscheidung fällte: »Wenn es so sein muss, wähle ich Amicia.«
Als sie nickte, bewegte sich ihr Kinn in seiner Hand. »Du gibst mir so viel. Und ich kann dir nichts dafür geben.«
Er lachte. »Wäre ich dein Vater, sähe ich das vermutlich andersherum.«
Sie wich zurück. »Vyves, ich habe keinen Vater«, blaffte sie ihn an. Gleich darauf überkam sie Reue. Wie konnte sie ihn so behandeln, Vyves, ihren Freund, der alles für sie tat!
»Du hattest einen Bruder«, sagte er ruhig. »Ich habe einmal deinem Bruder versprochen, für dich zu sorgen.«
Sie musste an Gideon denken, vor dessen Blicken sie sich regelrecht fürchtete. »Du hast es auch Deborahs Bruder versprochen, nicht wahr?«
Er wandte sich ab. Nur seinem Nacken sah sie an, dass er nickte. »Das ist eine Sache zwischen Gideon und mir. Überlass es mir. Du hast genug eigene Last auf den Schultern.«
»Vyves«, sagte sie und verstand sich selbst nicht. »Ich kann dir nichts versprechen.«
»Ich weiß«, sagte er. »Und ich kann auch nicht gut für dich sorgen. Aber wir können das tun, was du gesagt hast, oder? Wie die Amseln auf dem Feld leben. Von Tag zu Tag. Abwarten. Und Gott bitten, uns den Weg zu zeigen.«
»Welchen Gott?«, entfuhr es ihr.
Vyves lächelte. »Das dürfte die einzige Frage sein, die einfach zu beantworten ist. Durch welches Torhaus wir in den Himmel gelangen, bleibt uns zwar ein Rätsel, aber an Göttern haben wir nur einen zur Auswahl.«
Es wurde kälter. Aber es wurde auch leichter. Nicht immer reichte das Geld, das Vyves und Gideon verdienten, um die drei Kammern zu heizen, doch Samuel Crespin gab ihnen mehr Decken und für Amicias Bett eine mit Federn gestopfte Matratze. Deborah kam zu ihr und sagte: »Ich will nicht, dass du mir ausweichst und bei dem bisschen Freiheit, das dir bleibt, sogar im Haus wie auf Eiern gehen musst. Es ist nicht deine Schuld. Ich weiß das.«
»Es ist auch nicht Vyves’ Schuld«, sagte Amicia. »Du und dein Bruder – ihr dürft es ihm nicht anlasten.«
»Mein Bruder ist enttäuscht und zornig«, erwiderte Deborah. »Aber er wird Vyves verzeihen, denn ohne Vyves wären wir vermutlich alle in Windsor umgekommen.«
Sie war es auch, die Amicia erzählte, was die Familie hinter sich hatte und wie Vyves’ Vater gestorben war. Danach kam Amicia ihr eigenes Leben in Quarr so behütet und friedvoll vor,
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