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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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uns etwas ausdenken, damit du uns sagen kannst, wenn du Zahnreißen hast oder Hunger oder wenn du traurig bist, verstehst du? Pass auf, ich denke es mir so: Wenn dir etwas wehtut, dann zeigst du mir die Stelle – deinen Zahn, dein Herz, deinen Hintern oder was auch immer. Und dann ziehst du ein Gesicht, als müsstest du weinen, und schon weiß ich, wo es dich drückt!«
    Hugh sah sie sehr lange an, und irgendwann glaubte Magdalene zu erkennen, wie seine Augen sich aufhellten. Dann endlich nickte er.
    »Dann weiter«, befahl Magdalene. »Jetzt denken wir uns ein Zeichen aus, das du uns gibst, wenn du Hunger hast. Auf deinen Bauch zeigen kannst du nicht, denn dann denke ich, er tut dir weh …«
    Hugh begann sich den Bauch zu reiben und gab dabei knurrende Geräusche von sich.
    »Wunderbar!«, jubelte Magdalene. »Und jetzt zeig mir, dass du Angst hast.«
    Hugh zog den Kopf zwischen die Schultern und verschränkte die Arme vor dem Gesicht.
    »Dass einer keine Zunge hat, heißt überhaupt nicht, dass er nicht sprechen kann«, lobte ihn Magdalene. »Ich glaube, bald werde ich dich besser verstehen als Timothy, der den lieben langen Tag hindurch schwafelt.«
    Von nun an saßen sie jeden Morgen zusammen in der Schankstube und dachten sich Zeichen aus. Hugh begann dadurch später mit dem Trinken, und sein Gesicht sah nicht mehr so aufgeschwemmt und gerötet aus. Aber das war nicht alles. Früher war er versunken und teilnahmslos hinter ihnen hergezogen, ohne etwas anderes zu tun, als mühsam Befehle zu befolgen und zu trinken. Jetzt aber wurden seine Augen klar und seine Blicke lebhaft, und als es eines Morgens so kalt in der Stube war, dass Magdalene die Zähne klapperten, ging er und schürte das Feuer. Hinterher zog er ihr den Stuhl unter dem Hintern weg, dass sie gerade noch aufspringen konnte, und stellte ihn vor die wärmenden Flammen.
    Er hatte begonnen mitzudenken.
    Magdalene hatte Hugh helfen wollen, weil sie damit Herrn Matthew half, doch mit der Zeit spürte sie, dass sie auch sich selbst geholfen hatte. Bei Timothy kam sie nie zu Wort, und Dolasilla tat schon genug für sie. Hugh hingegen, der sonst nichts zu tun hatte, war genau der Richtige. Mit ihm konnte sie über ihre Sorgen sprechen.
    Sie erzählte ihm, wie sehr sie sich um Herrn Matthew ängstigte. Tom versicherte ihr zwar, er müsse wohlauf sein, denn er schicke weiterhin Geld für ihren Unterhalt, und eines Abends hatte er sogar einen Boten mit dem Hund geschickt, aber gerade das schürte Magdalenes Furcht: »Du weißt doch, wie lieb er den Hund hat«, erinnerte sie Hugh. »Dolasilla hat gesagt, er ist mit Tieren wie der heilige Franz von Assisi, und wer der Franz von Assisi ist, hat sie mir auch erzählt: Das ist ein welscher Heiliger, der mit dem Viehzeug spricht wie mit Menschenwesen – so wie unser Herr Matthew.«
    Hugh verzog den Mund. Es geschah jetzt immer häufiger, dass er lächelte, und noch häufiger, dass Magdalene ihn verstand, noch ehe er eins der vereinbarten Zeichen vollführte.
    »Siehst du!«, rief sie. »Und er würde doch seinen Hund nicht einem fremden Boten anvertrauen, bei dem der Hund einen Riemen um die Schnauze tragen muss. Wenn er dem Hund das antut und ihn nicht selbst versorgen kann, dann muss er schrecklich krank sein, Hugh. Und ich glaube, er ist so krank, weil die Amsel ihn verlassen hat.«
    Hugh überlegte. Dann tat er, als schöbe er ein Schwert in die Scheide – eine Geste, die er selbst sich für Herrn Matthew ausgedacht hatte –, und anschließend wedelte er mit den Armen wie mit Flügeln, um die Amsel darzustellen. Gleich darauf wandte und krümmte er den gesamten Leib, wies auf jedes einzelne Glied und zuletzt auf sein Herz.
    »Du meinst, die Amsel und Herr Matthew sind überall krank?« Jetzt war es an ihr, zu überlegen. »Du könntest recht haben«, stellte sie schließlich fest. »Sie sind beide so schön, und sie sind die zwei feinsten Menschen, die ich kenne. Die Amsel ist auch lustig, und Herr Matthew singt dem Leben manchmal ein Liebeslied, aber dann wieder ist in ihnen diese Traurigkeit, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Warum ist das so, Hugh? Weil die Amsel nicht weiß, wer sie ist? Aber ich wusste doch auch nicht, wer ich bin, und jetzt weiß ich es, aber bin ich denn dadurch eine andere geworden? Ich bin noch immer Mag, die Herr Matthew aus dem Frauenhaus geholt hat und die die Amsel und Timothy und dich zu Freunden hat – und nun auch noch Dolasilla und Tom. Darüber war ich vorher

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