Kains Erben
Ringelblumensalbe auf die blauen Flecken streichen.«
Matthew seufzte. »Ich will zu diesem Turnier, Amicia.«
»Das habe ich befürchtet.«
»Nein«, rief er. »Hör mir erst zu! Wenn es dir so zuwider ist, muss ich mich dort nicht schlagen, obgleich wir ein oder zwei von den Preisgeldern durchaus brauchen könnten. Aber eine bessere Gelegenheit, beim König um Aufnahme in seinen Haushalt zu bitten, bekomme ich nicht wieder. Versteh mich doch, Amicia. In meiner Familia in Yorkshire kann ich nicht bleiben, und von irgendetwas müssen wir leben. Es werden Männer dort sein, die ich in London getroffen habe und die versprochen haben, für mich ihr Wort einzulegen …«
Magdalene fragte sich, ob die Amsel das Flehen in seiner Stimme hörte, den drängenden Wunsch, es ihr recht zu machen. Kein anderer Herr hätte ein Mädchen, auch kein noch so geliebtes, bei seinen Entscheidungen um Zustimmung, geschweige denn verstohlen um ein anerkennendes Wort gebeten. In seiner Familia in Yorkshire, der ja wohl sein Vater vorstand, durfte er gewiss nicht bleiben, weil der Vater ihm verboten hätte, die Amsel zu lieben. Aber dass er ihr ein solches Opfer brachte, für das er doch ihr Lob verdient hätte, verschwieg er ihr.
»Du bist mir keine Rechenschaft schuldig«, sagte die Amsel. »Wenn du meinst, dass wir nach Winchester müssen, dann gehen wir eben nach Winchester, für mich ist eins wie das andere. Und wenn du meinst, dich schlagen zu müssen, werde ich mich bemühen zu lernen, dass das dein Handwerk ist – so als wärst du ein Schlachter und schlügest Lämmern die Köpfe ab.«
»Hör auf«, bettelte er. »Das könnte ich nie.«
Sie lachte und küsste ihn. »Das dachte ich mir. Und jetzt kriechen wir beide noch für eine kleine Weile in dieses Zelt, und du machst es mir warm, ja? Schau, es liegt wieder Reif auf der Wiese. Mir kommt es vor, als liege er überall auf mir und als käme in diesem Jahr kein Frühling mehr. Aber ich habe ja dich.«
»Gut, dass ich wenigstens zu etwas nütze bin.«
»Oh Matthew, du bist mehr als nütze! Es kann sich unmöglich ein anderer Mann auf der Welt so warm anfühlen wie du.«
Vielleicht hätte Magdalene sich schämen sollen, weil sie die Liebe der beiden belauschte, aber sie hatte dafür keinen Grund. Die beiden waren das Schönste in ihrem Leben, sie wünschte ihnen nichts als Gutes, und die Geräusche ihrer Liebe waren Musik in ihren Ohren.
Gleich darauf zerschnitt ein Geschrei die Musik, im selben Atemzug schlug der Hund an. Magdalene hörte, wie Herr Matthew auf die Füße sprang und in die Richtung stürmte, aus der das Geschrei kam, und wie die Amsel und der bellende Hund ihm folgten. Das Geschrei war entsetzlich: der herausgebrüllte Schmerz einer gepeinigten Kreatur. Magdalene hielt nichts mehr im Zelt. Auf ihren Strümpfen und ohne das Wolltuch, das ihr Herr Matthew ihr gekauft hatte, rannte sie ins Freie.
Die Welt war grau, von der Sonne noch kein Schimmer zu sehen, und doch verriet das Verblassen der Schwärze, dass die Nacht vorüber war. Wie die Amsel gesagt hatte, glitzerte auf der Uferwiese des Flussarms silbriger Reif. Es sah schön aus, aber die schneidende Kälte nahm Magdalene die Freude daran.
Herr Matthew war über das bereifte Gras auf eine Baumgruppe zugelaufen und stürzte dort auf die Knie. »Halt den Hund zurück!«, rief er der Amsel zu, die ihm gefolgt war. Sie packte das Tier, das keinem von ihnen mehr Angst machte, am Halsband, und auf Herrn Matthews Befehl hin legte es sich nieder.
Auf schmerzenden Sohlen eilte Magdalene ihnen hinterher. Hinter einem halb verbrannten Baumstamm, in den ein Blitz gefahren war, blieb sie stehen. Von hier konnte sie die beiden sehen, ohne fürchten zu müssen, von ihnen gesehen zu werden.
Die Schmerzensschreie, die sich noch weiter steigerten, kamen von der Stelle, vor der Herr Matthew kniete. Im sich allmählich lichtenden Dunkel erkannte Magdalene eine der Fallen, die Wilddiebe aufstellten, um sich ein Abendessen zu sichern. Keine Grube wie die, die ihr selbst einmal zum Verhängnis geworden war, sondern eine Knüppelfalle, bei der ein schwerer Schlagstock mit Gewichten gesichert wurde, die sich lösten, sobald ein Tier auf den Boden der Falle trat. Der Stock fuhr nach unten und zertrümmerte dem Tier den Schädel. So zumindest war es gedacht, doch hier hatte die Falle offenbar versagt. Das tote Tier, die Maus, die darin lag, war der Köder, nicht die Beute. Ihr Leib war aufgeschlitzt und blutverschmiert, damit
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