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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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Wange.
    »Nein.«
    »Doch. Bitte sing es. Ich habe mir so sehr gewünscht, es noch einmal zu hören.«
    Magdalene hatte es sich auch so sehr gewünscht, aber sie hätte nie gewagt, ihn darum zu bitten. Sie glaubte auch jetzt nicht daran, dass er der Bitte nachkommen würde, sah die Zweifel, mit denen er auf die Amsel hinunterblickte, und gab die Hoffnung auf. Die Amsel aber löste sich aus seinen Armen und strich ihm ermutigend über den Rücken.
    Mit einem Ruck straffte er die Schultern, legte den Kopf in den Nacken und sang das Lied in den Himmel, die Stimme erfüllt von Kraft und Glanz, von tiefer Demut und Liebe zum Leben.
    Gelobt seist du, mein Herr, in allen deinen Geschöpfen.
    Allen voran in unserem Bruder, der Sonne,
    Die uns der Tag ist und durch die du uns das Licht schenkst.
    Es war wie beim ersten Mal. Etwas in Magdalenes Herzen zuckte, und mit einem Schlag war sie sicher, in ihrer Welt beschützt zu sein, was immer auch geschehen möge. Grausame Wilddiebe quälten verliebte Vögel, aber Menschen mit zärtlichen Händen erlösten sie von ihren Schmerzen und machten ihr kleines Leben wertvoll, indem sie für sie sangen. So sorgte Gott für seine Geschöpfe und glich Leid durch Freude aus. Sie selbst war von der Krankheit befallen worden und würde nie mehr arbeiten können, aber ihre Familie schützte sie und ließ nicht zu, dass ihr ein Leid geschah.
    Ich lasse auch nicht zu, dass euch ein Leid geschieht, schwor sie stumm. Wenn jemand diesen beiden Böses wollte, ein schlechter Mensch wie der Fallensteller, würde sie nicht den Hund auf ihn hetzen, wie sie es früher beschlossen hatte, denn Herr Matthew würde nicht wollen, dass der Hund verletzt wurde. Sie würde sich selbst auf den Verbrecher werfen, zwischen ihn und ihre Lieben, und sie würde dabei glücklich sein.
    Es war wie beim ersten Mal, und doch war es schöner. Hatte sie damals kein Wort des Liedes verstanden, so erkannte sie jetzt, was es war: ein Lobgesang. Das Jubellied eines Mannes, der allem Dunkel zum Trotz das Leben liebte und die Schönheit der Schöpfung pries. Die Schönheit von Sonne und Mond, wilden Hunden, verletzten Habichtsweibchen, mit den Amseln singenden Geliebten, stummen Dienern, geilen Laienbrüdern und törichten Dingern namens Mag. Das Lied wurde nicht in ihrer Sprache aus dem Tatzelwurm-Tal gesungen, aber diese war ihr ähnlich, und was ihr die Worte nicht verrieten, erschloss ihr Herrn Matthews Stimme.
    Schon verklang über der Ebene, in der die Sonne den Reif schmolz, der letzte Ton. Die Amsel reckte sich auf die Zehenspitzen und küsste Herrn Matthew auf die bloße Haut am Hals. Dann legte sie ihm den Arm um die Taille, er legte ihr den Arm um die Schultern, und Seite an Seite gingen sie zurück zu den Zelten. Magdalene blieb hinter ihrem Baumstumpf stehen, um sie um keinen Preis zu stören.
    »Wenn du nicht willst, gehen wir nicht nach Winchester«, sagte Herr Matthew. »Irgendeinen anderen Weg wird es schon geben.«
    »Wir gehen nach Winchester«, sagte die Amsel. »Wenn es richtig für dich ist, ist es auch richtig für mich.«
    »Aber diese Kerle, die Knüppelfallen bauen, lassen wir vorausziehen, ja? Ich habe Angst, dass ich mich vergesse, und ich will mit dir allein sein.«
    »Und ich mit dir.«
    Magdalene hörte ihn lächeln. »So allein, wie wir mit Mag und Timothy und Hugh und Stephen eben sind.«
    »Ja«, sagte die Amsel, »genau so«, und küsste sein verheiltes Handgelenk.

31
    C
yprian nahm ein frisch geschliffenes Messer, trat vor den Wandteppich in seinem Schlafgemach und stach auf das Gesicht des Adam ein, bis nur noch stiebende Wollfäden davon übrig waren.
    Einen Mann radierte man nicht aus, indem man ihn tötete, sondern indem man mit Stumpf und Stiel ausriss, was seine Lenden hervorgebracht hatten. Indem man dafür sorgte, dass sein Geschlecht zu Staub zerfiel, wenn er selbst in der Hölle verglühte. Cyprian war immer überzeugt gewesen, die Hölle auf sich nehmen zu können, solange er wusste, dass sein Geschlecht überlebte und sich zu neuem Ruhm erhob. Wenn er bei Nacht daran dachte, dass dieser Traum zerplatzt war und von ihm nichts bleiben würde, war es ihm, als schöbe sich ihm die Birne des Schmerzes in den Mund. Sie drängte sich in seine Kehle und die Gurgel hinunter, bis er jämmerlich erstickte, und dagegen half nur, sich zu beschwören, dass es noch nicht zu spät war. In solchen Nächten versprach er sich, dass er Robert am Morgen eine Metze holen lassen würde, eine mit breitem

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