Kains Erben
dir so entsetzlich wehgetan.«
»Ja, das hast du. Und ich dir.« Sachte, beinahe ohne Berührung legte sie die Arme um ihn. »Und weil wir beide ziemlich nette Leute sind, tut uns das, was wir dem anderen getan haben, mehr weh als das eigene. Aber ist es denn richtig, dass wir einander jetzt mit den Schmerzen stehen lassen? Sollten wir uns nicht zumindest Ringelblumensalbe auf die blauen Flecken tupfen?«
»Blaue Flecken?« Skeptisch furchte er die linke Braue. »Ist das nicht grandios untertrieben?«
»Und tut ein bisschen Untertreibung nicht gut?«
Mit einem Schlag löste sich die Spannung auf seinem Gesicht. »Doch«, gab er zu. »Und wie.«
»Wollen wir es so halten, Matthew? Solange wir uns nicht an die großen Gewichte wagen, die in unserem Leben noch herumhängen, untertreiben wir und tun so, als wären sie klein.«
»Das klingt nach Paradies, nicht nach der Welt. Können wir das?«
»Lass uns üben! Dass ich dir ziemlich gern einen Kuss auf deinen Mund geben würde, ist himmelhoch untertrieben.«
»Gib dir keine Mühe. Dass ich ziemlich gern einen hätte, ist die Untertreibung des Jahrhunderts.«
Als sie sich reckte, kam er ihr entgegen. Sie schloss ihm die Hände um die Wangen und küsste die Narbe auf seiner Stirn. Zärtlich tasteten ihre Lippen über die schartig verwachsene, fest verheilte Haut. So wird es sein, dachte sie. Es wird Zeit brauchen, um zu heilen, es wird nie mehr so makellos sein wie früher, aber es wird unser Leben sein, und es wird nur noch selten wehtun.
»Amicia?«
»Was ist?«
Seine Augen funkelten. »Das ist nicht mein Mund. Und auch als Untertreibung ist das reichlich kläglich.«
»Soll ich’s noch mal versuchen?«, rief sie übermütig und küsste die Lider über seinen schönen schwarzen Augen.
»Schluss jetzt!«, sagte er, zog sie an sich und küsste sie.
Gott gnade dem Kloster, in dem du Mönch geworden wärst, war das Letzte, was Amicia dachte.
Es dauerte eine beträchtliche Weile, bis sie zum Sprechen wieder Atem fanden. »Noch eines«, sagte Matthew. »Wenn du versuchen willst, Isabels Erbe anzutreten – ich stünde dir nicht im Weg.«
»Nein, mein Liebling, das tätest du nicht.« Sie schlang die Arme um seinen Nacken und machte in Gedanken einen Knoten hinein. »Das ist wie ein schlechter Scherz des Schicksals, nicht wahr? Nach allem wärst du ziemlich genau der Schwiegersohn, den Isabel gebraucht hätte: Du hast Einfluss bei Hof, und du hättest die Mittel, für mein Anrecht zu streiten. Aber ich möchte das nicht. Als elterliches Erbe werde ich das betrachten, was ich von hier bekommen habe. Von Quarr. Und das ist reich. Isabel hat auf ihre eigene Weise getan, was sie für das Richtige hielt. Der Insel ging es gut unter ihr, aber die Zeiten ändern sich und wir müssen tun, was das Richtige für uns ist.«
Matthew lächelte. In seinen Mundwinkeln zeichneten sich zwei feine, halbrunde Gruben. Er legte den Arm um sie und führte sie ein Stück über die Wiese, um Althaimenes zu holen, der am Rand einer Koppel nach den Stuten lechzte. »Hast du es eilig weiterzukommen?«, fragte er. »Soll ich Randulph fragen, ob er uns eine Nacht in deiner Hütte schlafen lässt?«
»Ich frage!«, rief Amicia hastig. »Dich lasse ich vorsichtshalber in die Nähe keiner Klosterpforte mehr.« Sie wollte Randulph noch um etwas anderes bitten. Ich frage ihn, ob er in der Kapelle dieses Lied für uns singen lassen kann, beschloss sie. Für mich und Matthew, für Vyves und seine Familie, für Stephen und auch für Adam und Isabel. Gelobt seist du in allen deinen Geschöpfen. Das einzige Lied, das keine Untertreibung ist.
ENDE
Nachbemerkung
D
as sogenannte Edict of Expulsion , das sämtliche in England ansässigen Juden des Landes verwies, beendete eine zweihundertjährige Periode des Zusammenlebens, die unter William dem Eroberer begonnen hatte. Es beendete auch eine Periode der Verfolgung und Erniedrigung, der Massaker und der Pogrome. Die Ausweisung der Juden galt im November 1290 als abgeschlossen. Es gab kaum Widerstand, wohl aber Tote, die Versuchen, sich am Menschentransport zu bereichern, zum Opfer fielen. Dem zum Trotz wird der Ablauf der Operation bis heute als »reibungslos« bezeichnet. England war damit »judenfrei« und blieb es für die gesamte übrige Dauer des Mittelalters. Wohin die Pfade geführt hätten, die das Land sich damit abschnitt, werden wir nie erfahren.
Edward I., der die Waliser nieder- und die Juden aus seinem Land herausgehämmert
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