Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
Vom Netzwerk:
brüllte? Glaubte sie, sie allein wusste, wie man in Nächten frieren konnte – so sehr, dass die Finger bei jeder Bewegung knackten? Glaubte sie, nur sie habe Verachtung zu schmecken bekommen, das Gefühl, ein Brocken wertloser Dreck zu sein?
    Er drohte ihr mit der Faust. Heiser schrie sie auf und stolperte aus dem Raum. Cyprian atmete auf, stieß die Decke fort, die sie benutzt hatte, und ließ sich zurücksinken. Es war gutgegangen. Er hatte ihr nichts getan, und sie war fort. Für Augenblicke genoss er all das, wofür das Mädchen sein Seelenheil verkauft hätte: die Festigkeit der Rosshaarkissen, den reinen Duft des Leinens aus Reims, die seidige Wärme der mit Pelz versetzten Decken. Dieser Raum, der prächtigste der Burg, hatte einst einem anderen gehört, aber der hatte ihn verscherzt, und jetzt stand er allein ihm zu.
    Es war harte Arbeit gewesen, sich all dies zurückzuerobern. Als Cyprian Aldfield Castle übernommen hatte, war die Baronie am Ende und die Burg nicht mehr gewesen als ein feuchtes, von Ratten behaustes Gemäuer, aus dem die Männer des Sheriffs fortgeschleppt hatten, was immer von Wert gewesen war. Es war für einen Mann hart genug, wenn er für die Sünden seines Vaters büßen musste. Cyprian aber hatte beileibe nicht nur für seinen Vater gebüßt. Dass ihm heute das Wasser höchstens bis zur Brust und nicht mehr bis zum Hals stand, war allein sein Verdienst, und den Preis, den er dafür entrichtet hatte, hätte keiner seiner Neider bezahlt.
    Der Wein auf dem Nachttisch ekelte ihn, weil das Mädchen davon gesoffen hatte. Robert würde ihm gleich einen frischen Krug bringen. Der Kastellan, der zugleich die Pflichten eines Kammerherrn versah, wusste, dass sein Herr ihn in dieser Nacht noch zu sprechen wünschte. Ein Mann wie Robert – verschwiegen wie ein Grab, gehorsam wie ein Hund und bereit, keine Fragen zu stellen – war schwer zu bekommen, wie Cyprian aus leidvoller Erfahrung mit Roberts Vorgänger wusste. Er nutzte den wackeren Diener weidlich aus, doch er zahlte ihm dafür den Lohn, den sonst drei Männer bekamen. Ihm war der eine lieber. Eine Laus wollte er sich nicht wieder in den Pelz setzen, er hatte es einmal getan, und das war einmal zu viel.
    Cyprian wartete ab, bis er sicher sein konnte, dass Robert die Metze hinausbefördert hatte. Aldfield Castle besaß weder Graben noch Mauer, und die niedrige Motte hinunter würde sie den Weg schon finden. »Robert!«, rief er lauthals.
    Genau sieben Herzschläge später stand sein Kastellan in der Tür. Wie der Mann sich so flink und geradezu lautlos über die Gänge des Gebäudes bewegen konnte, blieb Cyprian ein Rätsel. Er war bestürzend verwachsen, ein Bein kürzer als das andere und der Rücken zum Buckel verkrümmt. Seiner Gewandtheit tat jedoch keiner dieser Makel Abbruch.
    »Ihr wolltet mich sprechen, Mylord Baron. Zuvor noch einen Krug Wein?«
    Cyprian nickte, ohne sich aufzusetzen. Er zog sich ein Polster in den Rücken und verschränkte die Hände im Nacken. Sein Blick haftete an einem Detail des Wandteppichs, der die Vertreibung aus dem Paradies zeigte. Er hatte das Knüpfwerk in der Hoffnung hängen lassen, das Bild des Paradieses mit seinen leuchtenden Grüntönen, Früchten und Blüten werde ihm wohligen Schlaf bescheren. Zumindest versuchte er, sich das einzureden. Hatte er es nicht in Wahrheit hängen lassen, weil die Vertreibung aus dem Paradies sein Lebensthema war?
    Statt sich beim Anblick des Bildes zu beruhigen, stockte er stets aufs Neue vor dem Gesicht des Adam. Oh, wie er diesen Namen hasste! Wie er sich wünschte, den Mann namens Adam aus seinem Paradies zu vertreiben! Weshalb durfte es so etwas überhaupt geben – ein blühendes Stück Paradies so nah bei einem harten, unwirtlichen Land? Das Gesicht des Mannes auf dem Teppich war verzerrt, der Kopf zurückgedreht, als könne er sich nicht losreißen. Der Anblick erinnerte Cyprian Nacht für Nacht daran, dass der Mann, dem er alles hatte nehmen wollen, noch immer die Insel hatte, die ihm das Teuerste war. Und die Frau, die mit der Insel verwachsen war.
    Robert kehrte mit dem Krug zurück und schenkte Cyprian ein. Der nahm den Becher und starrte weiter dem Adam ins Gesicht. »Berichtet mir«, sagte er.
    »Mit Verlaub, Mylord – zu berichten gibt es beinahe nichts. Unsere Kundschafter sind unverrichteter Dinge zurückgekommen.«
    »Was soll das heißen? Es gibt keine Nachricht aus London? Und auch keine von der Isle of Wight?«
    »So gut wie keine.«

Weitere Kostenlose Bücher