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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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das auf dem Boden neben Sir Matthews Bett lag, war gut vierzig Zoll lang und besaß eine breite, sich zum Griff hin weitende Klinge. Ein Anderthalbhänder.
    Woher weiß ich das?, durchzuckte es Amicia. Wer hätte mich je etwas über Schwerter gelehrt? Dennoch war sie sicher, dass das Schwert, das mit seinem langen Heft vor ihr lag, ein Meisterwerk der Schmiedekunst war. Es war nicht neu, doch in ausgezeichnetem Zustand, und die Klinge wies kaum Schäden auf. Sie streckte die Hand aus, um das Schwert zu berühren, und erstarrte in der Bewegung. Wo über dem Heft die Klinge ansetzte, war eine kleine Gravur angebracht, die den Besitzer auswies: ein kunstvoll geschnörkeltes »C« und ein Wappentier, ein Drache, der Feuer spie.
    Amicia fühlte den altbekannten Schwindel, das Herzrasen und die Schleier vor den Augen, doch sie lehnte sich mit einem Ruck dagegen auf. Ich will das nicht!, schrie sie sich selbst zu. Ich will nicht jedes Mal zusammenbrechen, wenn etwas von damals mich streift! Ich werde bald Quarr und die Insel nicht mehr haben. Wenn ich nicht endlich die Angst überwinde, werde ich nie erfahren, wer ich bin.
    Sie zwang sich, die Augen offen zu halten und den Drachen zu betrachten. Es war eine schöne Arbeit; der Kopf des Ungeheuers und die Flamme, die ihm aus dem Maul schoss, waren so naturgetreu gestaltet, dass man glaubte, die Funken sprühen zu sehen. Es war ohne Zweifel der Drache aus ihren Albträumen. Aber das war nicht alles. Jetzt, wo sie sich mit aller Macht zwang, einen klaren Kopf zu behalten, fiel ihr ein, dass sie den Drachen zuvor schon gesehen hatte – nicht in einer nächtlichen Schreckensvision, sondern bei Tag und in der Wirklichkeit. Auf dem Schwert, das Matthew bei seiner Ankunft bei sich getragen hatte, hatte dasselbe Wappen sie in Schrecken versetzt. Dieses hier musste also sein eigenes Schwert sein, das die Verbrecher gestohlen hatten. Wie aber hatte Randulph es wiederbeschafft, und was suchte der Drache in ihrem Traum?
    »Du solltest das nicht anfassen.« Seine Stimme ließ sie herumfahren. Er stand in der Tür, zum ersten Mal seit dem Überfall in voller Rüstung, wenn auch ohne Helm. Er war bleicher, das ohnehin kantige Gesicht hagerer als damals; er hatte mehr Mühe zu verbergen, dass er unter dem Eisen verletzlich war.
    Jäh wünschte sie sich die Vertrautheit zurück, die in der einen Nacht zwischen ihnen gewesen war. »Ich habe es mir nur angesehen. Es ist ein schönes Stück.«
    »Findest du? Kann etwas schön sein, das zu solchem Zweck geschaffen wird?«
    Wieder einmal war es ihm gelungen, sie zu verblüffen. »Und das sagt Ihr?«, fragte sie zurück. »Ist dieser Zweck nicht Euer Beruf?«
    »Es muss ja kein Schlachter sein Beil schön finden«, erwiderte er. »Und kein Ochsentreiber seine Peitsche. Jetzt lass die Finger von dem Schwert, es ist frisch geschliffen und zum Frisieren von kleinen Mädchen nicht geeignet.«
    »Aufschneider! Um in Männernasen zu bohren, taugt es ebenso wenig.«
    Die Grube in seinem Mundwinkel verriet ihr, dass er sich das Lachen verbiss. »Ich gehe mit Euch nach Yorkshire«, stieß sie ohne Überlegung heraus. »Der Abt will es so.«
    »Ich weiß«, sagte er. »Ich bin darüber nicht glücklicher als du.«
    »Ihr könntet ablehnen, mich mitzunehmen.«
    »Nein«, sagte er. »Das kann ich nicht. Wir werden uns beide damit abfinden müssen.«
    Etwas in ihr wünschte, er würde seinen Widerwillen gegen ihre Begleitung nicht so frank zur Schau stellen. Sie wies auf den Drachen, ohne ihn noch einmal anzusehen. »Ist das Euer Wappen?«
    Er zögerte, schien zum ersten Mal um eine Antwort verlegen zu sein. Endlich sagte er: »Ja«, zog ihr das Schwert weg und ging.
    Keine Woche später, am ersten sonnigen Vorfrühlingsmorgen, brachen sie auf. Magdalene saß auf ihrem Maultier und weinte, und Bruder Timothy redete tröstend auf sie ein. Amicia, die in beengenden, ungewohnten Frauenkleidern steckte, konnte nicht weinen. Bei den Laien, die sich vor den Hütten herumgedrückt hatten, um sich von ihr zu verabschieden, hatte sie nicht mehr als Gemurmel herausgebracht. Randulph war nicht erschienen. Die Ordnung des Klosterlebens durfte nicht durch Gefühlsstürme gestört werden. Allein Prior Francis überbrachte Grüße. »Nimm es dem Abt nicht übel. Du kennst ihn, Amsel.«
    Nein, hatte es in ihr gerufen, ich kenne ihn nicht! Aber aus ihrer Kehle kam kein hörbares Wort.
    Der Mann, der neben ihr ritt, auf einem Pferd, das den Namen eines Vatermörders trug,

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