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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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zurückkehrte, widerfuhr ihr ein noch größerer Schrecken. Sie riss die Tür auf, und vor ihr ragte ein Mann auf, als sei er aus dem Boden geschossen. Hoher Wuchs, starke Schultern, ein Gesicht von kalter, ebenmäßiger Schönheit und Augen, in denen Mordlust brannte. Amicia erschrak so sehr, dass sie schrie und zurücksprang. Erst als sie ausglitt und in den eisigen Schnee stürzte, begriff sie, dass es lediglich Sir Matthew war. Er kam ihr nicht zu Hilfe.
    »Ist dir nicht wohl?«, fragte er von oben herab und ohne Anteilnahme.
    Bebend vor Zorn rappelte Amicia sich auf. »Mir geht es bestens«, fauchte sie. »Zumindest tat es das, bevor Ihr die Güte hattet, mich umzustoßen.«
    Natürlich wusste sie, dass er nichts dergleichen getan hatte. Er wusste es ebenfalls, obgleich er nichts sagte, sondern nur kalt lächelnd um das Haus herumging, um sich im Schnee zu waschen.
    Der Ritter ging noch einmal aus, als die Frauen sich schlafen legten. Magdalene beschwor ihn zwar, er sei noch nicht kräftig genug und in der Finsternis lauerten tausend Gefahren, aber er schob sie von sich und beharrte, er wolle sein Pferd besuchen, das er seit Wochen nicht gesehen habe. Den Hund nahm er mit, dem Mädchen aber befahl er, im Haus zu bleiben, er wolle endlich einmal seine Ruhe haben. Die Kleine weinte sich in den Schlaf. Amicia hingegen lag lange wach und versuchte, ihr pochendes Herz zu beruhigen. Als sie endlich einschlief, stürzte ein Albtraum sich wie ein Raubtier über sie.
    Er stand über ihr. Matthew de Camoys. Sie lag im Schnee wie zuvor, doch er blieb nicht kalt lächelnd stehen, sondern sprang auf sie und presste sie nieder. Eine Klinge blitzte auf, darauf ein Drache, der Feuer spie und Funken sprühte. Dicht darüber sah sie seine schwarzen Augen, den Blick, der sich in ihren brannte. Mit allen Kräften versuchte sie, sich unter ihm hervorzuwinden, doch er war hundertmal stärker. Sie drehte den Kopf zur Seite, um wenigstens dem grausamen Blick zu entrinnen, da sah sie, dass der Schnee um sie herum rot gefärbt war, dass ringsum Tote lagen, verdreht, zerstückelt, mit zum Himmel gerichteten Gesichtern.
    Sie kannte auf der Welt keinen lebenden Menschen mehr, er hatte alle abgeschlachtet: Abt Randulph, Prior Francis, die Laien. Die kleine Magdalene und den stummen Hugh. Thomas à Becket, der zum Beten niederkniete, einen jungen Mann mit blutverschmierten schwarzen Locken und ein Mädchen, von dem sie wusste, dass es Aveline de Fortibus hieß. Das Schwert, das sie getötet hatte, steckte ihr noch in der Brust, der Drache prangte darauf, und das Blut sprudelte aus der Wunde wie ein Springbrunnen. Wie ein Brunnen. Sieben. Acht. Neun. Zehn.
    Amicia schrie.
    Sie schrie aus Leibeskräften, befreite ihre Arme und schlug um sich, doch sie konnte ihm nicht entgehen. Sein Gesicht blieb über ihr, der Blick der mörderischen Augen – keine Handbreit entfernt. Sie wand sich, brüllte, biss und schlug, bis ihr der Atem ausging und sie auf der Seite liegenblieb.
    Im stillen Schein der Kerze lösten sich die toten Körper und der blutgefärbte Schnee in Nichts auf. Sie lag auf ihrem Lager, gewärmt und geborgen unter ihren Decken, und über ihre Wange glitten Fingerspitzen, die kühl und trocken waren. »Ruhig, nur ruhig. Nameless bewacht uns. Es kann nichts geschehen.«
    Schwerfällig, als hinge ihr Leib an Bleigewichten, drehte Amicia sich um. Sein Gesicht war immer noch da, und seine Augen blickten sie an. Unendlich langsam begriff sie, dass dies die Wirklichkeit war, nicht der Überrest des entsetzlichen Traumes. Sie war in ihrem Haus, es gab keine Toten um sie, und sie war nicht allein. Der Mann, der bei ihr war, hatte sie nahezu zu Tode erschreckt, aber er wollte ihr nichts Böses, sondern versuchte mit einer Scheu, die sie berührte, sie zu trösten.
    Sobald Sir Matthew bemerkte, dass sie bei sich war, zog er seine Hand zurück und stand auf. Er hatte offenbar beobachtet, wo sie den Wermutsud aufbewahrte, mit dem sie sein Fieber gesenkt hatte, denn er ging zielstrebig hin und füllte einen Becher. Er kam zurück und setzte ihr das Gefäß an die Lippen, so wie sie ihm Flüssigkeit eingeträufelt hatte, solange er auf Leben und Tod lag. Das bittere Getränk war eine Wohltat. Mit einem weichen Fetzen Stoff begann er, ihr den Mund abzutupfen, doch sie schüttelte den Kopf und flüsterte: »Mehr.«
    Zum ersten Mal hörte Amicia ihn lachen. Fast tonlos. Auf einmal war es schwer zu glauben, dass sie gerade noch Angst gehabt hatte, er

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