Kains Erben
auf der Welt ein schöneres Wort gab.
»Ihr seid also der Ansicht, als Frau habe sie kein Recht, ihren Vater oder Bruder zu beerben?«, fragte sie lahm.
Er lächelte böse. »Ginge es nach mir, dann hätte mein Hund mehr Rechte als eine Frau. Er besitzt mehr Verstand.«
Ich verstehe die, die dich totprügeln wollten, dachte Amicia. Sie wandte sich ab und überließ ihn sich selbst. Füllte etwas von der gerade gekochten Grütze in einen Napf und trug ihn dem Stummen in den Verschlag. Der stieß, als er ihrer ansichtig wurde, eine Folge keckernder Laute aus, mit denen er – das wusste sie inzwischen – seine Freude äußerte. Als er sah, dass sie ihm zu essen, aber nichts zu trinken gebracht hatte, rutschte ihm das Grinsen vom Gesicht. Der Schwachsinnige liebte es, sich zu betrinken.
Vielleicht ist das Leben, das er führt, nicht anders zu ertragen, dachte Amicia. Immerhin steht er im Dienst eines Mannes, der ihn vermutlich so verächtlich behandelt wie mich und Magdalene.
Amicia stockte. War der Stumme denn schwachsinnig? Oder kam sie zu diesem Schluss nur, weil er mit übertriebener Mimik und Gestik versuchte, die fehlende Sprache zu ersetzen? »Es tut mir leid«, sagte sie zu ihm. »Wir trinken Wein und Ale nur in Maßen, doch du kannst dir Wasser schöpfen, so viel du willst.«
Betrübt sah er sie an und nickte.
»Auch für dich ist es besser, maßvoll zu trinken. Das weißt du, nicht wahr?«
Er sah sie an und schüttelte den Kopf.
»Meinst du, das Leben ist leichter, wenn man sich besinnungslos säuft und nichts mehr davon spürt?«
Der Stumme nickte.
Kälte kroch über Amicias Rücken. Hatte er denn unrecht? Tat sie nicht dasselbe, auch wenn sie sich an die Vorschriften für maßvolles Trinken hielt? Seit Magdalene verletzt nach Hause gekommen war, seit Abt Randulph ihr noch einmal bestätigt hatte, dass er sie in der ersten Frühlingssonne mit dem verhassten Ritter in die Fremde schicken würde, wünschte sie sich genau das: besinnungslos zu sein, ihr eigenes Leben nicht zu spüren, sich nicht fragen zu müssen, was morgen, übermorgen, im nächsten Winter aus ihr wurde.
»Warte«, sagte sie zu dem Stummen. Dann ging sie und holte ihm aus ihrer Hütte einen Krug Holunderwein. Sollte er selbst entscheiden, ob er sein Leben versoff – wer war sie, dass sie einem Mann Moral predigte, der dreimal so alt sein mochte wie sie?
Als sie ihm den Krug hinstellte, gab er wiederum die keckernden Laute von sich, und diesmal klangen sie ganz wie ein Lachen. Er trank aus der Tülle, bis er aufstoßen musste, dann hielt er ihr den Krug hin. Sie schüttelte den Kopf, doch er bestand darauf, dass sie ihn nahm. Es tat verblüffend gut.
»Du heißt Hugh, nicht wahr?«
Er nickte.
»Du hast es schwerer als wir. Wir reden nicht miteinander, weil wir zu dumm oder zu stolz dazu sind – du hingegen hast überhaupt keine Wahl.«
Sofort schüttelte er den Kopf und begann zu gestikulieren. Er wies auf seinen Mund und zeigte ihr den hochgereckten Daumen, dann wies er auf sie und zog ein bedrücktes Gesicht.
»Was willst du sagen? Dass du froh bist, nicht sprechen zu müssen?«
Der Stumme nickte.
»Wer weiß. Vielleicht hast du recht. Wer nicht reden kann, erzählt zumindest keinen Unsinn. Aber warum erträgst du dann mit klarem Kopf dein Leben nicht?«
Er sah sie unbeirrt an, unternahm aber keinen Versuch, die womöglich komplizierte Antwort mit Gesten auszudrücken. Sie tranken beide noch etwas.
»Bist du gern hier?«, fragte Amicia.
Der Stumme lächelte und nickte.
»Aber du weißt, dass wir von hier fortmüssen? Wir alle: du, ich, die kleine Närrin und dein Herr. Sobald er reisen kann und das Wetter es erlaubt.«
Wieder nickte er.
»Bist du traurig deswegen? Würdest du gern bleiben?«
Erregung ergriff von ihm Besitz, er packte ihren Arm und schüttelte wild den Kopf.
»He, was ist denn in dich gefahren?« Sie befreite sich und stand auf. »Nun schön, dann gefällt es dir hier also nicht, und du kannst es nicht abwarten, fortzukommen. Aber mir gefällt es! Ich lebe hier, und es will mir nicht in den Kopf, weshalb ich mit euch fortgehen soll.«
Der Stumme sprang ebenfalls auf, ergriff noch einmal ihren Arm und blickte ihr eindringlich, geradezu beschwörend ins Gesicht. Sein Mund öffnete und schloss sich, und es war nicht zu übersehen, dass er etwas sagen wollte. Amicia glaubte es zu hören: Bleib nicht hier. Bleib nicht hier.
In ihrer Kehle ballte sich ein Klumpen.
Als sie in ihr Haus
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