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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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einzutreiben, statt etwas zu tun, das einem Ritter zur Ehre gereicht? Da, wo du zu Hause bist, in Yorkshire – ist es dort schön? Sind die Himmel hoch? Sehnst du dich dorthin zurück, wenn es Frühling wird?
    Während der Rast stand sie abseits am Stamm einer Linde und beobachtete, wie er sich am Zaumzeug des Pferdes zu schaffen machte, wie die Muskeln seiner Schultern spielten und wie der Gambeson die schlanken Hüften betonte. Auf einmal drängte es sie, ihn zu fragen: Die Frauen, die du in den Armen gehalten hast – waren das alles Frauen wie Magdalene? Hast du sie gekauft, wie wir uns in Wirtshäusern Ale und Brot kaufen?
    Das Zaumzeug war gerichtet, Matthew ergriff den Sattelknauf und schwang sich aufs Pferd. Ein Kribbeln lief Amicia durch den Leib. Seinen Schenkel, der sich um den Pferdeleib schmiegte, hatte sie während seiner Krankheit im Schoß gehalten, des Nachts hatte sie die lange Narbe gestreichelt, und jetzt wollte sie ihn fragen: Wie viele Frauen hatten deine Schenkel im Schoß? Hast du sie alle vergessen, oder hast du eine von ihnen geliebt?
    Liebe. Es war das Wort, das sie erschreckte. Wenn sie es lautlos vor sich hinsprach, stürzte all das andere auf sie ein: das Bild vom Mord an Thomas à Becket, das Blut auf den Steinen, der Drache, der Funken spie, und die Stimme, die zählte. Sieben. Acht. Neun. Zehn.
    Sie ließ die Zügel fahren und presste sich die Hände auf die Ohren. Etwas erschreckte das Pferd, das einen Satz vollführte und Amicia nach vorn schleuderte. Mühsam fing sie sich an der Mähne, doch das Tier warf scheuend den Kopf in die Höhe, und Amicia glitt an seiner Seite zu Boden. Der Sturz vollzog sich so langsam, dass sie unbeschadet auf den Knien landete und sich sofort wieder aufrappeln konnte.
    Im Nu war Matthew neben ihr und sprang vom Pferd. »Beim Himmel, was machst du?« Er streckte ihr den Arm hin, und sie griff zu, obwohl sie keine Hilfe nötig hatte. Dass er besorgt um sie war, erfüllte sie mit Frohlocken.
    »Nichts«, sagte sie. »Ich habe nur gerade begriffen, dass du recht hast: Es ist besser, keine Fragen zu stellen.«
    »Und deshalb bist du vom Pferd gefallen?« In seinen Mundwinkeln formten sich zwei winzige Gruben, die verrieten, dass er gegen ein Lächeln kämpfte.
    Sie berührte eine von ihnen mit der Fingerspitze. »Ja, deshalb. Ob du es glaubst oder nicht.«
    »Aber warum …«
    Übermütig drohte sie ihm mit dem Finger, rief: »Keine Fragen!«, und schwang sich wieder aufs Pferd. Sie würde ihn nicht fragen. Nicht verhindern konnte sie allerdings, dass die Fragen mit dem Takt des Hufschlags hinter ihrer Stirne weiterklopften. Warum dachte sie an Mord, wenn sie an Liebe denken wollte? Und wie kam das Wappen des Mannes, der sie an Liebe denken ließ, in ihren wüstesten Traum?
    Aus Rücksicht auf Magdalene reisten sie geduldig im Schritt. Da es gegen Abend schon wieder zu regnen begann, erklärte Matthew, er wolle ein Quartier suchen, statt die Nacht unter der feuchten Leinwand des Zeltes zu verbringen. Ein Dorf war weit und breit nicht in Sicht, nicht einmal ein Gehöft, das Platz für fünf Reisende geboten hätte. Hugh wimmerte im Gehen vor sich hin, und Bruder Timothy klagte, Magdalene werde sich verkühlen und sterben, wenn sie nicht bald ins Trockene käme. Davon abbringen ließ er sich nicht, obgleich Magdalene ihn fortwährend anfuhr: »Willst du wohl still sein? Ich bin die Königin von England in meiner Sänfte, ich könnte bis ans Ende der Welt so reisen, und nein, nimm deine kratzige Kapuze weg, lieber werde ich nass, als dass ich mir deine Wanzen fange!«
    Amicia musste lachen und verspürte einen Anflug von Neid auf das Geplänkel und die Leichtigkeit der beiden. Zugleich aber sorgte auch sie sich um die geschwächte und erbärmlich abgemagerte Magdalene. Sie trieb ihr Pferd dichter zu Althaimenes. »Vielleicht sollten wir doch das Zelt aufschlagen«, sagte sie mit gedämpfter Stimme zu Matthew. »Magdalene ist mit ihren Kräften am Ende.«
    Ohne ein Wort wies Matthew nach vorn. Wie aus dem Nichts erhob sich hinter Regenschleiern ein Gebäude aus gelblichem Stein. Es war langgestreckt und erinnerte mit seinen steilen Dachgiebeln, den Rundbogenfenstern und dem fehlenden Turm an die Kirche von Quarr. Das Heimweh, das sie begraben geglaubt hatte, versetzte Amicia einen Stich. Die Kirche von Quarr war erhaben und Ehrfurcht gebietend, sodass mancher Wanderer ihr gestanden hatte, sie flöße ihm Angst ein. Ihr selbst aber hatte ihre Größe nie

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