Kains Erben
verwischen.«
»Warum lässt du mir nicht den Hund?«
»Weil er keine Wahl hat«, sagte Matthew.
»Wie meinst du das?«
»Wenn ich ihm befehle, dich zu schützen, würde er einem Angreifer ins offene Schwert springen. Wählen können nur Menschen. Der Hund ist zur Treue verurteilt.«
Vielleicht hatte Amicia bis zu diesem Augenblick in einer gläsernen Kugel gelebt, in einer unwirklichen Welt, in der die Tage nur da waren, um auf die Nächte mit Matthew zu warten, und die Nächte, um in Matthews Armen die albtraumhaften Bilder zu verscheuchen. Jetzt aber begriff sie, dass hinter den Albträumen eine Wahrheit lauerte, der sie sich nicht länger entziehen konnte. »Matthew«, sagte sie. »Warum wollte der Mann mich töten? Und warum bist du so sicher, dass er Kumpane hat, die mich verfolgen? Wer bin ich denn, dass jemandem an meinem Tod so viel liegen könnte?«
»Ich weiß nicht, wer du bist«, sagte er, »und ich weiß auch nicht, warum dir jemand ans Leben will. Ich werde in London versuchen, etwas in Erfahrung zu bringen, doch bis dahin lass uns keine Fragen stellen.«
Die Kälte kroch ihr in den Nacken. Selbst jetzt, wo sie sich in jedem wachen Moment nach ihm sehnte, fürchtete sie sich noch manchmal vor seinem Blick. Als spüre er es, zog er die Decke höher und schloss den Arm noch fester um sie.
»Warum nicht, Matthew?«, flüsterte sie, aber sie kannte den Grund: Wer eine Frage stellte, musste die Antwort ertragen. Sie zog sich so nah zu ihm, dass es wehtat, und begrub ihr Gesicht an seinem Hals.
Auch sich selbst wollte sie keine Fragen mehr stellen, schon gar nicht die, die sich immer wieder einschlich: Warum kann ich mir so sehr wünschen, ihn bei mir zu haben, wo er mir solche Angst gemacht hat, wo ich ihn so verabscheut habe? War es allein ihr Körper, der mit solcher Gewalt seinen Willen äußerte? Wäre das der Fall gewesen, es hätte Amicia nicht erschreckt. Es mochte Todsünde sein, aber es fühlte sich nicht so an. Es half gegen Kälte und Angst und löschte für Augenblicke die Einsamkeit aus. Als Kind hatte Amicia zuweilen an die Decke ihrer leeren Kammer gestarrt und geglaubt, der Himmel sei ebenso leer, denn wenn er nicht leer war, warum sprach niemals eine Stimme zu ihr? Die Angst vor dem leeren Himmel hatte ihr die Brust zusammengepresst und war nie mehr völlig verschwunden. In der ersten Nacht, in der sie umgeben von dampfenden Pferdeleibern in Matthews Armen gelegen hatte, hatte sie jedoch dies erkannt: Nichts ist so schwarz, wie es aussieht. Der Himmel ist nicht leer.
Wäre es allein ihr Körper gewesen, sie hätte ihn gewähren lassen. Hatten die Brüder, an deren Lehren sie sich festgehalten hatte, sie nicht aus ihrer Gemeinschaft verstoßen? Es war, wie sie Matthew gesagt hatte: Sie war frei, für sie galten keine Regeln mehr. Was sie am meisten gewollt hatte, ihr Zuhause in Quarr, hatte sie nicht behalten dürfen, und was immer sie jetzt noch wollte, würde sie sich nehmen. Sie wollte Matthew – mehr, als er sie wollte. Er war es, der verhinderte, dass ihre Leiber sich zu einem vereinten; er war es, der sie vor dem Augenblick höchster Nähe auseinanderriss: »Nicht weiter, meine süße Zauberin. Nicht auch noch das.« Hätte er sie entscheiden lassen, hätte sie vor keiner Grenze haltgemacht.
Dass ihr Körper nach ihm verlangte, schreckte sie nicht. Es schreckte sie jedoch, dass dieser Mann, dessen Benehmen sie abgestoßen hatte und der sie tagsüber noch immer ohne die geringste Höflichkeit behandelte, einen Teil in ihr berührte, von dem sie nicht gewusst hatte, dass sie ihn besaß. Jetzt aber, wo dieser Teil von ihr erwacht war, wusste sie nicht mehr, wie sie ohne ihn gelebt hatte.
Sie wollte Matthew zusehen, wenn er in der Frühe mit einer abrupten Bewegung aus dem Stroh aufstand, wenn er sich kopfüber in einem Zuber wusch, sich ruppig das Haar zurückstrich und sich ebenso grob die Kleider überstreifte. Sie wollte manchmal über ihn lachen dürfen. Sie wollte neben ihm sitzen und ihm die Schulter streicheln, wenn er aussah, als würde er gern weinen.
Amicia spürte die Gefahr, die darin lag, Fragen zu stellen, und doch hätte sie gerne alles von ihm gewusst: Was für ein Kind warst du, hattest du Brüder, Schwestern? Warst du deiner Mutter Liebling? Wollte sie dich, als du fortgingst, nicht ziehen lassen? Warum sprichst du mit Tieren, aber nicht mit Menschen? Warum trägt dein Pferd den Namen eines Vatermörders? Was zwingt dich dazu, des Königs Steuern
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