Kains Erben
Mit einem schicksalsergebenen Seufzer stieg sie in seine Hände, die er zur Räuberleiter faltete, und ließ sich in die Raufe heben.
Es war beschwerlich, es weckte den kaum verstummten Schmerz, aber es ließ sich ertragen. Gleich ist er fertig, hatte sie sich beschworen, und dann habe ich gewiss für eine Weile meinen Frieden. Dann aber war die Tür aufgeflogen, und zu Magdalenes Entsetzen stand Herr Matthew darin. Der Schreck verschlug ihr die Sprache, selbst kümmerlichstes Gestotter. Sie hatte ihn zuvor schon wütend gesehen; sie wusste, dass sich in diesem so feinen, so vortrefflichen Mann ein Zorn verbarg, der gefährlich werden konnte, aber sie hatte ihn nie so außer sich erlebt wie jetzt. Sein Gesicht war dunkel, das Haar hing ihm wild zerrauft in die Stirn, und mit einem grässlichen Klirren zog er das Schwert aus der Scheide. Die lange Klinge glänzte.
Magdalene sah Herrn Matthews gespannte Schultern und begriff, dass er mit einem einzigen Hieb einen Arm durchtrennen konnte oder, wenn er wollte, auch einen Hals.
»Komm aus dem Kasten, du Stück Dreck! Ich habe dir gesagt, wenn du dich noch einmal an ihr vergehst, haue ich dir dein verdammtes Ding mitsamt den Eiern ab!«
Da sie eine Hübschlerin war, ein Kind der Straße, war Magdalene daran gewöhnt, dass Männer schmutzige Worte spuckten, bis sie aus dem Mund stanken. Aber Herr Matthew war nicht wie andere Männer. Herr Matthew war ein edler Mensch mit einer schönen Seele, der eine unter Abertausenden. Dass er sich herabließ, wie ein Bierbrauer zu geifern, dass er dadurch an seiner Seele Schaden nahm und dass sie daran schuld war, drehte ihr das Herz um. Darüber hinaus aber hatte sie eine höchst handfeste und drängende Sorge: Herr Matthew blieb nämlich nicht stehen. Er ging mit dem Schwert vor der Brust auf die Raufe zu, und wer sein Gesicht sah, wusste, dass er kam, um seine Drohung wahr zu machen.
Timothy wimmerte und versuchte, sich wie ein Kaninchen in den Berg aus Körnern einzugraben. Mit beiden Händen buddelte er eine Grube und steckte den Kopf hinein, nur um gleich darauf niesend und prustend wieder aufzutauchen. Flugs war Matthew bei ihm, packte ihn am Kragen und zerrte ihn mit der Kraft eines Armes in die Höhe. »Ein Bastard wie du hat kein Recht, sich Mensch zu nennen. Du lässt ein Mädchen viehisch verrecken, weil du deinen Drecksschwanz nicht bei dir behalten kannst!«
Woher hast du nur solch eine Sprache, mein Herr Matthew? Kein Wort davon passt zu dir! Magdalene hatte keine Zeit, darüber nachzusinnen, denn die Spitze von Herrn Matthews Schwert berührte Bruder Timothys Bauch, und der arme Tölpel zappelte wie ein Schwein am Fleischerhaken. Wenn er Pech hatte, schlitzte er sich auf diese Weise selbst auf, ehe Herr Matthew es tat.
Das konnte sie nicht erlauben! Gern gönnte sie Herrn Matthew seinen Zorn, der ihm ja zustand, wo er sich mit ihnen allen herumplagte – mit ihrem Bluten, das sie unbrauchbar machte, mit Hughs Zahnweh, mit Bruder Timothys Altweibergeplapper und mit der ungerechten Schelte der Amsel. Aber sie durfte nicht zulassen, dass er sich zum Mörder machte. Bruder Timothy mochte sein, wie er war, einen aufgeschlitzten Bauch hatte er nicht verdient.
Magdalene nahm ihre Kräfte zusammen und setzte sich auf. »Nicht doch, Herr Matthew!«, rief sie und griff nach seinem Arm. »Es ist nicht seine Schuld – er kann nicht anders!« Ströme von Getreide rieselten an ihrem Körper hinunter und verursachten ein unsägliches Kitzeln.
Herr Matthew sah, dass sie nach der Klinge griff, und sprang zurück. »Bist du von Sinnen? Du hast so schon kaum mehr Blut in den Adern – willst du dir auch noch die Hände aufschlitzen?«
»Ja, mein Herr«, antwortete Magdalene. »Wenn Ihr dafür den armen Bruder Timothy lasst.«
»Wie kannst du mit diesem Schwein Mitleid haben?« Er zog das Schwert außer Reichweite, womit es nicht länger gefährlich war. Mit einem Winseln sprang Bruder Timothy an den äußersten Rand der Kiste und versuchte von Neuem, sich einzubuddeln. Matthew bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick. »Er ist doch schuld, begreifst du das nicht? Du bist nur ein dummes Ding, das die Beine breitmacht, weil es glaubt, es habe sonst auf sein Dasein kein Recht. Er aber, der unter den klügsten und gottesfürchtigsten Männern Englands gelebt hat – hat er vor Gottes Geschöpfen keine Unze Respekt?«
Magdalene hatte Matthew lange nicht gestreichelt, weil sie fand, es stehe ihr nicht mehr zu. Jetzt aber
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