Kairos (German Edition)
Will kommt.
Die Sirene auf dem mit Flechten bedeckten Schieferdach der Kirche der Protestantengemeinde von Inverness heulte auf. Das Dröhnen über das Land fegender Kampfjägerstaffeln; die ganze Zeit ein fernes, schleppend schwindendes Grollen in der Luft. Vereinzelte sich in den Himmel schraubende Nachzügler ließen Fenster in ihren Rahmen zittern, wenn sie Überschall erreichten.
Marta konnte sich nicht rühren.
Etwas ist über uns gekommen, hereingebrochen,
dachte sie. Etwas Desolates, das alles bisher Wichtige von einem Moment auf den nächsten beendete. Es hatte keine Warnung gegeben, keine Ansprache des neuen Präsidenten.Man überließ sie in der dunkelsten Stunde sich selbst. Marta spürte Verzweiflung die Starre aufweichen. Sie hatten keine Chance. Sie würden alle sterben, wenn nicht heute, dann morgen oder am Tag danach – das war ihre feste Überzeugung. Die Einsicht nahm ihr die Luft zum Atmen, den klaren Geist zum Denken und Handeln.
Wo blieb Will? Er sollte längst zurück sein, wollte nur ein paar Besorgungen machen, wie ein neues Halsband für Jack, weil das alte vom Tragen ganz abgewetzt war. Was, wenn er nicht kam? Wenn er für immer fort blieb?
Überall auf der Erde landen riesige Raumschiffe und entlassen Tausende außerirdische Soldaten, die die sich ihnen entgegenstellenden Menschenarmeen niedermetzeln ... ganze Bataillone, die vom Feind überrannt werden.
Sie konnte es nicht glauben. Das Holo-TV zeigte die Realität. Sie wollte etwas sagen, etwas Tröstliches, Mutspendendes, aber ihr fiel nichts ein. Und falls doch, bezweifelte sie, daß sie die Kraft haben würde, es auszusprechen. Ihr schwindelte. Sie mußte sich setzen. Jack kam und schmiegte sich an ihre Beine.
Der Schirm. Er zeigte in aufbereiteter 3D-High-Definition Einzelheiten der anlaufenden Invasion Außerirdischer. Marta mußte sich selbst vorbeten, was sie sah. Es war unglaublich, unbeschreiblich. Abstürzende Flugzeuge, sinkende Schiffe, Menschen im Feuer. Eine riesige Aeroflot-Maschine zerschellte auf den Landefeldern von Amsterdam-Schiphol und brach in einem Flammenmeer auseinander. Dornenschiffe gingen überall nieder und setzten Kämpfer ab. Stadtviertel, die in sich zusammenfielen, brennende Häuserzeilen, umgestürzte Denkmäler, Massengräber aus zerstörtem Beton und deformiertem Baustahl...
Marta fiel ein Wort ein.
Apokalypse. Um die Welt ist es schlecht bestellt. Barmherziger Jesus.
Und Will war nicht hier. Die Welt stand in Flammen, und ihr Ehemann war nicht dort, wohin er gehörte. Noch immer keine Nachricht von ihm; ihr Pad blieb stumm.
Sie sah zu Josh. Er starrte geradeaus. Er war das Wertvollste, was sie kannte. Der größte Schatz unter der Sonne. Ihn zu schützen war das Allerwichtigste. Jack winselte. Der Hund spürte die Unruhe. Josh senkte die Hand, um den Hund zu streicheln. Jack sah hinauf; Marta wieder auf das Holo: Schalte vom Brüsseler Hauptstadtstudio auf das Mittelmeer.
...ein Schiffsverband mit Flottenträger aus der Vogelperspektive.Das Bild zoomte heran, in Sicht kam eine aufreizend hübsche Frau mit ehrgeizigem Blick neben einem Pumpengehäuses. Der Flugzeugträger hatte Schlagseite. Der Live-Ticker:
Regionaler Flottenversorgungspunkt, auf dem Flugzeugträger Cinquième République, Flaggschiff der Sechsten Blockadeflotte unter Konteradmiralin Kaya van Claasen.
Die Aktivität eines Schlachtschiffes im Krieg. Eine Hölle aus Krach und Feuer. Das schrille Zischen abgefeuerter Marschflugkörper. Menschen liefen brüllend umher. Überall Tote und Verwundete. Die Schiffssirene heulte, ein beklemmender Laut. ›Ich bin Cait Matheson. Sie sehen BBCWorldwide. Ich befinde mich auf dem Flugzeugträger Cinquième République. Wie Sie sehen, ist die Lage dramatisch und äußerst ernst.‹
Karrierefixierte Sensationsreporter. Diesmal wollten es alle sehen.
...auf einmal war die Lage der
Cinquième République
noch katastrophaler. Ein Großbrand wütete auf dem Start- und Landefeld. Ein durch Hitze verformtes Flugzeugleitwerk. Menschen in Overalls versuchten, mit Halogenfeuerlöschern, den Brand unter Kontrolle zu bringen. Die Kameraposition wechselte ruckartig. Jetzt zeigte das Bild den Mittelmeerhimmel, über den in steter Folge Jagdflieger und seltsame Lichtbälle rasten. Wieder die Reporterin. Matheson wurde soeben nach vorne geschoben, in die Käfigkabine eines Fahrstuhls. ›Sir, auf keinen Fall. Ich bestehe auf mein Exklusivrecht als Berichterstatterin im-
‹
›Da pfeif ich drauf! Runter
Weitere Kostenlose Bücher