Kairos (German Edition)
überschlagen, dann seitlich liegenbleiben. Der Fahrer gab noch immer Vollgas oder ein Pedal hatte sich verklemmt; der E-Motor lief hochtourig, und die Räder drehten sich. Zwischen Corey und dem Bus stand ein Hitzeflimmern, ein flirrender Schleier, dort, wo er etwas zu erkennen suchte. Er hielt nach dem Fahrer in dessen Kabine Ausschau, sah aber nur demoliertes, olivgrünes Blech und zerbrochene Dreifachglasscheiben.
Langsam ging er hin, wie entrückt. Seine Beine zitterten, doch setzte er Schritt um Schritt. Sein Verstand wies ihm, diesen Ort zu meiden, rasch das Weite zu suchen. Etwas Anderes ließ ihn weitergehen. Vielleicht ein menschlicher Existenz geschuldeter Reflex der Barmherzigkeit, oder quälender Neugier. Oder des Mutes. Jedenfalls, mit einem Mal fand er sich vor dem Wrack stehend wieder, es anstarrend. Er hoffte, irgend etwas zu hören, Stöhnen, Wehklagen, Schreie, die von Verletzten, doch auch Überlebenden kündeten. Aber gespenstische Stille herrschte. Corey würde niemals sagen können, ob sie wirklich existierte oder nur in seinem Kopf vorherrschte. Er trat noch näher. Es roch nach brennenden Kunststoffen und Chemikalien. Ihm fiel der Versorgungstrakt ein, den der Bus zuvor passiert hatte. Sicher stand das Gebäude in Brand, dachte er, ohne es je zu erfahren, da das Wrack ihm die Sicht versperrte.
Er begriff, daß er Zeit schindete. Er wollte nicht näher gehen und sehen, was er aller Voraussicht nach zu sehen bekommen würde. Doch er mußte. Er hatte Angst davor, was ihn erwartete. Aber es gab kein Zurück, denn das wäre unverzeihlich feige, also ging er weiter.
Er sah den toten Fahrer und schluckte. Der Mann war zweifellos tot. Was da aus einem Loch in seinem Schädel zusammen mit einer hellen Flüssigkeit und weißen, weichen Hirnteilen quoll, war Beweis genug. Corey würgte, aber schaffte es, sich zusammenzureißen.
Er sah die vielen Glassplitter am Boden. Etliche davon warenblutbeschmiert. Sie knirschten unter seinen Schuhen. Er blieb stehen. Verharrte tief- ein und ausatmend. Jetzt kam es. Es ging nicht anders. Er drehte den Kopf seitwärts, um einen Blick in die Fahrgastzelle zu werfen. Bevor er ein greifbares Bild zu sehen bekam, begannen Bilder in ihm Gestalt anzunehmen, eine Phantasmagorie des Grauens. Er hoffte, die Bilder in seinem Kopf wären schlimmer, als die echten. Also sah er hin. Die Wirklichkeit war schlimmer. Er kannte die Toten.
„Nein“, sagte er. Dann sagte er es noch einmal, und schluchzte: „O Scheiße.“
Überall Körper junger Menschen. Zusammengekrümmt wie plumpe Abbilder von Schlafenden. Anderen sah man an, daß sie tot waren.
Er umrundete den Bus und fand Kaolin. Sie war hinausgeschleudert worden, ihr Körper auf den Asphalt geprallt. Corey sah schon aus der Ferne, daß ihr Genick gebrochen war. Scott konnte er nirgends entdecken, aber Nandi. Die Leiche des Inders war im Bus. Er hatte am Fenster gesessen. Die Wucht der durch die Explosion platzenden Scheiben hatte ihm die Brust zerfetzt, das Feuer daraufhin sein halbes Gesicht verbrannt. Corey starrte auf rosa, an den Wundrändern verkokeltes Fleisch. Es roch bestialisch. Sein Magen rebellierte. Er würgte erneut, schmeckte Galle und spuckte aus. Menschen, die er kannte, waren nicht mehr am Leben. Er hatte mit ihnen gesprochen, aufregende Dinge erlebt, mit ihnen gelacht, gestritten ... geschlafen – jetzt waren sie tot. Und falls sie nicht tot waren, waren sie dennoch verloren. Corey hatte weder die Zeit noch Mittel, ihnen zu helfen.
Ein sonderbarer Einfall erfüllte ihn, sonderbar deshalb, weil er nicht sagen konnte, ob er positiver oder negativer Natur war. Vermutlich weder noch. Oder beides. Der Gedanke barg die Botschaft, daß die durch den Drogentest erlittene Niederlage schuld daran war, daß er noch lebte. In diesem Bus hatten die Mitglieder seiner Gruppe gesessen. Sie sollten evakuiert werden. Wäre er nicht aus dem Lehrgang geflogen, hätte er auch in diesem Bus gesessen.
Oder – nein.
Seine Rettung hatte viel früher begonnen. Hätte er nicht bei Jonsey diese lächerliche Menge Marihuana gekauft und sie mit Nazma im Studentenheim geraucht ... hätte er nicht diesen folgenschweren (eine Wort mit völlig neuer Bedeutung) Fehler begannen, der ihn seinen Traum gekostet hatte, wäre er jetzt so tot wie Scott, tot wie Kaolin. Er folgte dieser Überlegung noch eine Sekunde, als...
...ihn irgend jemand rücklings packte und fortriß. Zuerst völlig überrumpelt, wehrte er sich dann mit aller
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