Kaiserkrieger 2: Der Verrat
lassen.
Die Legionäre behielten die Nerven. Sie liefen zwar herum wie aufgeregte Hühner, aber Becker erkannte lächelnd, dass an allen wichtigen Stellen ein Dekurio oder ein Zenturio stand, um das Chaos zu verwalten. Es würde nicht mehr lange dauern und die Legionäre würden sich scheinbar erschreckt zurückziehen. Das Timing war wichtig. Sie mussten die Goten rechtzeitig genug nach sich ziehen, ohne selbst in das Schussfeld der deutschen Waffen zu geraten. Becker wollte sich nicht ausmalen, was passieren würde, wenn bei der ersten römisch-deutschen Schlacht Legionäre durch deutsche Kugeln niedergestreckt wurden. Er war sich mit bitterer Gewissheit klar geworden, dass sich derlei in Zukunft nicht völlig würde vermeiden lassen können, aber jetzt und hier, die Allianz noch in den Anfängen und das Misstrauen noch nicht völlig überwunden, das hätte fatale Konsequenzen.
»Der richtige Zeitpunkt«, formten sich Beckers Lippen im lautlosen Selbstgespräch. »Der richtige, der richtige, der richtige …«
Fast kam es ihm vor, als würde der Boden bereits unter den Hufen der herangaloppierenden Goten erzittern. Das dumpfe Grollen, das über die Ebene fegte, kam ohne Zweifel von den heranstürmenden Reitern. Becker biss die Zähne zusammen, ließ die Augen nicht vom Okular, berechnend und beobachtend. Er wusste, dass von Geeren ebenso auf seinen Befehl wartete wie der Hornist der Legionäre, der das vereinbarte Signal zur Absetzbewegung der römischen Soldaten geben würde. Die Gedanken in Beckers Kopf rasten, Erfahrung, Intelligenz und Intuition vermischten sich zu einem beinahe unbewussten Kalkulations- und Entscheidungsprozess. Becker hatte es nicht in relativ jungen Jahren bis zum Hauptmann geschafft, weil er sein Handwerk nicht beherrschte.
Die Goten waren heran. Jetzt zitterte der Boden. Und ihr Geschrei war ohrenbetäubend.
»Jetzt!«, brüllte Becker und riss die Hand hoch. Das Horn erklang. Das Herumgerenne der Römer endete urplötzlich, und mit der zu Recht gerühmten Präzision römischer Legionäre folgten die Männer den vorbereiteten Befehlen. Die Stellung der Soldaten schmolz dahin wie Butter in der Sonne, die höhnischen Rufe der Goten nicht weiter beachtend. Keiner wandte sich um und ritt den Barbaren todesmutig entgegen, keiner wollte seine besondere Tapferkeit unter Beweis stellen und niemand setzte sich in wilder Panik vorzeitig ab. Becker konnte nicht anders, als anerkennend nicken. Secratus hatte seine Männer im Griff, daran bestand kein Zweifel.
Becker legte den Feldstecher zur Seite. Er benötigte kein Fernglas mehr. Auch mit dem unbewaffneten Auge war nun alles gut zu erkennen. Und von Geeren blickte ihn erwartungsvoll an.
Beckers Blick umfasste noch einmal das Szenario. Die heranstürmenden, vor Triumph heulenden Goten, die still abziehenden Römer, die Position seiner Männer, mit den Fingern an den Abzügen, die hinter den MGs hockenden Schützen, die dicken Rohre ihrer Vernichtungsmaschinen auf den heraneilenden Pulk der Goten gerichtet – es war wie ein Stillleben voll tödlicher Präsenz und all dies in sich aufzunehmen, schien für Becker fast eine endlose Zeitspanne anzudauern. Alle Bauteile ihrer taktischen Konstruktion fielen nun an ihre Plätze.
Ein Plan, der funktionieren würde.
Becker war von sich selbst überrascht.
Dann nickte er von Geeren zu.
Befehle wurden gebrüllt.
Und der Sturm hob an.
12
Seltsam, dachte Jan Rheinberg und wischte sich verstohlen die feuchten Handflächen an der Toga ab. Wieso bin ich eigentlich so nervös?
Er saß, wie so oft, fast schon zu oft in den letzten Tagen, im großen Zelt des Kaisers und wartete darauf, dass sich die beiden Männer zu ihm gesellten, deretwegen er einbestellt worden war: der Kaiser selbst, der noch die Arbeiten zum baldigen Aufbruch des Lagers und des Abmarsches der Truppen gen Westen beaufsichtigte, sowie der erst kürzlich eingetroffene Bischof von Mailand, Ambrosius. Der Name allein erfüllte Rheinberg mit Respekt. Das Wirken des katholischen Kirchenvaters war auch ihm als Protestant durchaus bekannt, es war ein untrennbarer Bestandteil der römischen Innenpolitik. Dennoch bemühte sich der Deutsche, sich davon emotional nicht zu sehr beeinflussen zu lassen, denn jenseits aller historischen Verklärung war auch und gerade dieser Ambrosius ein Machtpolitiker der Kirche gewesen, der sich nicht gescheut hatte, für die Durchsetzung seiner Prinzipien staatliche Gewalt einzusetzen und Opfer an
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