Kaleidoscope: Kriminalroman (German Edition)
Straßenbahn Richtung Süden auf. Er wollte so weit weg vom Swan Lake wie nur irgend möglich. Er brauchtejetzt dringend was zu trinken. Die Hände in seinem Schoß zitterten und es war nicht einmal zwölf Uhr, aber Jack konnte keine problematische Begegnung in einem seiner Stammlokale riskieren.
In der Straßenbahn war eine Frau mit einem Kinderwagen. Einer von diesen modernen, die man jetzt überall sah. Mit dicken, aufgepumpten Gummireifen und großem, bogenförmigem Dach. Der Säugling darin eingemummelt und vor Sonne und Regen geschützt, während seine Mutter sich bemühte, mit sanftem Wiegen seinen Schlaf zu verlängern. Sie legte etwas neben den Kopf des Babys, einen Beißring vielleicht? Jack stellte sich vor, wie sein dunkelhaariger Sohn aus seinem tiefen Schlaf erwachte, um das Geschenk seines Vaters zu finden, den signierten Ball, der neben Martins Handschuhkissen darauf harrte, entdeckt zu werden. Vielleicht das letzte Andenken an seinen alten Herrn, das Martin jemals erhielt. Denn wenn nicht Becker, dann würde ihn sicher Bladehorn umbringen. Aber erst nachdem Fist ihm beide Beine gebrochen hatte.
Der Joker im Spiel war Alex Goodman. Jack fingerte eine Zigarette aus einer feuchten Packung und dachte darüber nach, welche Verbindung Goodman wohl zu diesem Coup hatte. War er Jerry Driggers Busenfreund oder Sallys Schwager oder der Dritte in einer Ménage-à-trois? Vielleicht hatte er auch Bladehorns Alte gevögelt. Und steckte sozusagen tief drinnen. Vielleicht war er auch ein gottverdammter Priester. Es spielte keine Rolle. Im Moment war nur wichtig, dass Alex Goodman irgendwann nach fünf ins Hotel Milner gehen würde, um Sally Price zu treffen, und stattdessen dort Arno Becker auf ihn wartete.
Jack spürte, wie der nikotinhaltige Rauch in sein Inneres vordrang. Er wusste nicht, wie er sich gegenüber einem Mann behaupten würde, der Menschen skalpiert. Nicht das Töten an sich gab ihm zu denken. Jack hatte selbst schon getötet. Die Pfeife schrillte und man sprang hoch und auf den Feind zu, und es wurde geschossen, gestoßen und gestochen. Maschinengewehre und Granatsplitter. Schreie von Männern und Tieren, von Panzern, Geschützen und Granaten übertönt. Doch Krieg war kollektivesGemetzel. Man kämpfte in der Gruppe; man starb in der Masse. Jack hatte im Krieg jede Menge gesichtsloser Feinde auf Befehl getötet, aber nie auf sich allein gestellt. Wie es wohl wäre, Arno Becker ganz allein entgegenzutreten?
Aber selbst wenn er an Becker vorbeikäme, vielleicht wollte Alex Goodman gar nichts mit ihm zu tun haben? Was sollte er tun, wenn Goodman sich einfach weigerte, irgendwas auszuplaudern? Könnte Jack Informationen aus jemandem rausprügeln oder -foltern, um sich selbst oder Martin oder Mamere zu retten? Oder würde er Goodman einfach bei Fist Carlton abliefern und sich nicht selbst die Hände schmutzig machen? Jack machte sich nichts vor, er hatte ein schlechtes Blatt, aber er war herausgefordertworden. Er drückte seine Zigarette auf dem Fensterrahmen der Bahn aus.
Es war an der Zeit, zu zeigen oder zu passen.
Das Hotel Milner war auf der Seventh Street, in der Nähe der Vine Street. Was konnte er nur bis fünf Uhr unternehmen, um seine Chancen zu verbessern? Erst mal musste er sauber werden. Jacks Füße steckten noch in nassen Socken, seine Wollhose klebte an seinen Waden und sein Hemd müffelte. So konnte er nicht ins Milner gehen.
Jack blätterte die Scheine in seiner Jackentasche durch. Er hatte hundert Mäuse von dem Vorschuss gefilzt, den Mamere unterm Kinderbett versteckt hatte. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten hatte er richtig Geld in der Tasche. Er könnte sich ein paar nette Klamotten kaufen. Und vielleicht anschließend zum Empress fahren und sich was hinter die Kiemen schieben. Warum sollte er mir leerem Bauch bei diesem Stelldichein erscheinen?
Oder mit leeren Händen? Er brauchte auf jeden Fall ein Messer und vielleicht auch einen Schlagring. Die würde er von Spuds kriegen. Dann könnte er auch gleichzeitig seine Schulden bei dem Polacken bezahlen.
In der West Fifth Street sprang Jack ungelenk von der Straßenbahn und fand nicht weit vom Carew Building ein Café. In der Innenstadt waren größtenteils Handwerker und Geschäftsleute unterwegs. Fabrikarbeiter und Eisenbahner kriegten kein Mittagessen. Jack überflog bei Eiern mit hash browns und literweise Kaffee die Zeitung. Man konnte keine Zeitung in die Hand nehmen, ohne Geld zu riechen. In der Titelgeschichte stand, im
Weitere Kostenlose Bücher