Kaleidoscope: Kriminalroman (German Edition)
ein Paar Eier so groß wie Heuballen in die Schublade zerrte. Jack hatte schon von Elefantiasis gehört. Und wer war nicht schon heimlich in eine Freakshow gegangen, um sich die aufgeblähten Arme, Finger, Kitzler und Pimmel anzusehen? Aber Jack war davon ausgegangen, dass es sich meistens um Attrappen handelte. Aber in diesem Fall war alles echt. Mit eigenen Augen sah er, wie Freddie seine zwanzig Kilo schweren Hoden in eine Schublade lud.
»Bis später, Half Track«, rief der Freak zurück, als er seine Klöten vor sich durch die Tür schob.
»Also der da«, sagte Half Track und hielt kurz bewundernd inne, »das ist ein wahrer Artist.«
Sie schob einen mit Eiern, Maisgrütze, Speck und Pfannkuchen überhäuften Teller über die Theke.
»Fünf Cent«, sagte sie, bevor Jack seinen Kaffee auch nur angerührt hatte.
»Wofür?«
»Fürs Nachschenken.«
»Sie haben doch noch gar nicht nachgeschenkt.«
»Noch nicht, aber anschließend willst du sicher noch mehr Kaffee. Das bedeutet Vorauszahlung eben.«
»Gibt’s noch andere Regeln, über die ich Bescheid wissen sollte?«
»Ganz bestimmt.« Die Antwort kam von der Eingangstür her. Jack drehte sich auf seinem Hocker um und sah Luna Chevreaux herüberkommen.
Sie war angezogen wie ein kesser Vater. Hose und Arbeitsschuhe. Ein Khakihemd um ihre Wespentaille zusammengezurrt.
»Noch Kaffee da, Half Track?«
»Schon unterwegs.«
Luna holte ein Klappmesser aus ihrer Hosentasche.
»Wir sprachen gerade von Regeln.«
»Ich zumindest«, sagte Jack nickend.
Sie reichte über die Theke und spießte mit ihrem Messer eine Orange in einer Schüssel auf.
»Jede Gesellschaft hat ihre Regeln, nicht wahr? Zum Beispiel haben Sie vielleicht schon mitgekriegt, dass es in Kaleidoscope Arbeiter und Artisten gibt. Wenn Sie dabeibleiben, was ich bezweifle, dann sind Sie hier Arbeiter. Sie dürfen Ihre Stellung nie vergessen.«
»Okay.« Jack nickte erneut.
»Noch eine Regel. Tischen Sie mir auf gar keinen Fall irgendwelchen Mist auf. Mir ist egal, ob Sie eine Bank überfallen, eine verheiratete Frau gefickt oder einen Bullen umgebracht haben, aber lügen Sie hier nicht das Blaue vom Himmel.«
Die Schale wand sich in einer langen Spirale von der Orange. Jack kippte seinen Kaffee herunter. »In Ordnung.«
»Also was können Sie uns bieten, Mr. Romaine?«
»Schwierig zu sagen. Ich hab noch nie in einem Winterquartier gearbeitet.«
»Wenn man ins Winterquartier geht, ist die Arbeit vorbei«, korrigierte ihn Luna. »Im Winter macht der Rummel dicht und die Leute brauchen eine Bleibe. Die Zirkusleute überwintern normalerweise in Sarasota. Das ist schön und gut für Seiltänzer und Messerwerfer, aber Freaks wie uns will niemand haben. Die meisten Einheimischen scheißen sich in die Hose, wenn die einen von uns auf der Straße sehen. Einige denken, wir wären verflucht worden oder wir wären Untermenschen oder eine Ausgeburt des Teufels. Verdammte Heuchler, allesamt. Es ist vollkommen in Ordnung, sich an Jo Jos Visage oder Freddies Eiern aufzugeilen, aber, he, kommt bloß nicht in meine Nachbarschaft!
Bevor wir das hier gefunden haben, wussten wir gar nicht wohin. Als ich zum ersten Mal hier runterkam, war es nicht mehr als ein Angler-Camp. Damals hatten wir nur Zelte. Giant war der Erste, der hier eine Hütte gebaut hat. Dann Tommy und seine Frau. Und eh man sichs versah, haben Freaks aus dem ganzen Land hier überwintert.
Kann nicht mehr lange dauern, bis aus Kaleidoscope eine richtige kleine Stadt wird. Vielleicht sogar eines Tages mit Bürgermeister und Polizei! Und Feuerwehr. Und alles von Schaustellern organisiert.«
»Feuerwehr Kaleidoscope? Einfach toll.«
»Ach, was? Sie halten das alles hier wohl für einen Witz?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Natürlich nicht«, sagte Half Track verächtlich.
»Schon mal ein Kaleidoskop gesehen, Jack?« Luna ließ ihre perfekte Orangenschale auf die Theke fallen. »Schon mal durch ein Kaleidoskop geschaut?«
»Als Kind vielleicht.«
»Alle diese Formen und Farben scheinen erst mal gar nicht zusammenzupassen, nicht wahr? Ein totales Durcheinander. Aber wenn man sie in ein Rohr steckt und es dreht, entsteht auf einmal etwas Schönes. Und das sind wir. So soll Kaleidoscope sein.«
Sie zog ihren Hocker näher heran. Er konnte den Duft der Orange in ihrem Zigeunerhaar wahrnehmen.
»Also wie haben Sie uns gefunden, Jack? Wer hat Ihnen von Kaleidoscope erzählt?«
Jack verrührte sein Spiegelei mit der Maisgrütze. »Ich habe
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