Kaleidoscope: Kriminalroman (German Edition)
überreichte.
»VOLLE DECKUNG!«, rief der Schwarze.
Die Freaks, durch ihre anatomischen Absonderlichkeiten in ihrer Koordination auf grausame Weise behindert, stoben wie bösartige Kinder auseinander. Kriechend, taumelnd und watschelnd entfernten sie sich von Charlies Wohnwagen und nahmen alles mit, was ihm je etwas bedeutet hatte. Uhren, Besteck und Requisiten. Andenken, Kleider und Fotos. Und natürlich Schwerter.
Innerhalb von Sekunden wurde Charlies Habe unter den Artisten von Kaleidoscope aufgeteilt.
»LASS DAS NICHT ZU, LUNA!«
Charlie bettelte jetzt.
»LUNA, NEIN!«
Sie nickte Giant einmal zu. Der schüttete Benzin in den Wohnwagen. Dann warf er die Fackel hinterher.
»NEEEEEEEIIIIN …!
Die Flamme wurde nach innen gesogen, so als schluckte der Wohnwagen selbst ein feuriges Schwert. Dann blähte sich das Feuer zu einer orangen Kugel auf und schoss in die Höhe, um eine Orchidee aus Flammen zu formen. Tiefschwarzer Rauch. Blade taumelte kurz auf die Ruine seines Heims, seines Lebens zu, aber die Hitze warf ihn zurück. Er fiel schluchzend in den Sand. DieSchausteller johlten und pfiffen höhnisch.
»Mein Gott, Tommy …?« Jack sah Speck an. »Tommy?«
Tommy Speck saugte einen ekligen Spuckefladen aus seinen Backen und spie auf den Boden.
»Dieser Scheißkerl. Geschieht ihm ganz recht.«
KAPITEL ZEHN
In dieser Nacht verdeckten dahintreibende Wolkenfetzen immer wieder den Mond, der nur unstete Beleuchtung bot. Ein Schleier aus Teer- und Holzgeruch überdeckte den üblichen Duft von Kiefernnadeln und feuchter Erde. Jack umklammerte das erste Bier seit seiner Ankunft an diesem gottlosen Ort. Es war der erste Alkohol überhaupt, seit er diesen Auftrag übernommen hatte.
Mit einem Einweckglas voll Selbstgebrautem hockte er unter einer riesigen, über dem Gleis zu Peewees Zelt wachenden Sumpfzypresse. Ganz in der Nähe leuchtete der Tuchpalast der Prinzessin wie eine Laterna magica. Lampen im Innern warfen Silhouetten auf die Zeltplane. Jack erkannte Ambassadors Schatten, der seinen Rüssel in den Wassertank am Fußende von Peewees Bett tunkte. Er konnte auch die Fette Frau sehen, ihre üppige Figur durch das Spiel von Stoff, Schatten und schwüler Brise verzerrt. Sie saß im Bett und las, aber was nur? Welche romantische Geschichte konnte sich mit diesem Leben messen?
Er wollte gern glauben, dass Cassandras sexgeladene Weissagung nur ein Trick war, ein Versuch, Informationen aus ihm herauszuholen, seine Geschichte auf Herz und Nieren zu prüfen. Die ganze Sache mit den Lichtern und der Kugel war dochnurHokuspokus, oder? Nicht wert, dass man einen Gedanken daran verschwendete. Andererseits …? Etwas an diesem Treffen im Wohnwagen der Zigeunerin gab ihm jedoch zu denken. Wie konnte Cassandra so vollkommen davon überzeugt sein, dass Jack Alex Goodman nie begegnet war? Es stimmte natürlich, aber wie konnte sich Cassandra dessen so sicher sein? Wahrscheinlich wusste sie es gar nicht, sagte er sich. Das gehörte nur zu ihrer Nummer. Andererseits …?
War im Wagen der Sybille vielleicht wirklich Hexerei im Spiel gewesen? Hatte es eine Offenbarung gegeben, die er nicht mitbekommen oder im Ansatz erstickt hatte? Jack nahm einen großen Schluck Bier. Wie konnte er so was überhaupt denken? Er wurde ja wie einer von denen! Kristallkugeln? Weissagungen?
Trotzdem … Jack schob sein Bierglas weg. Vielleicht hatte er irgendwas übersehen.
Er achtete darauf, dass niemand ihn sah, als er zu Peewees Pavillon ging. Er betrat das Zelt und lief in völliger Dunkelheit durch das Labyrinth von Wäscheleinen zu ihrem Boudoir, wo der angekettete Ambassador zufrieden neben dem Wassertank an Peewees extrem verstärktem Bett stand. Auf einem Stapel Bücher neben ihr stand ein elektrischer Ventilator.
Jack klopfte an eine Sturmstange.
»Prinzessin, darf ich reinkommen?«
Sie lächelte in ihr Buch.
»Na, das war aber nett, wie Sie gefragt haben.«
»Ich wollte es besser machen als beim letzten Mal«, sagte Jack und betrat ihr Schlafgemach.
Sie legte das Buch weg. Candide . Jack sah, dass es französisch war, kannte aber das Buch nicht.
Sprach Peewee français ?
»Wie lange sind Sie jetzt hier? Eine Woche?«
»Acht Tage«, antwortete er. »Oder mein ganzes Leben, je nachdem wie man es sieht.«
Wenn sie lächelte, hatte sie tiefe Grübchen, bemerkte er. Drei Zentimeter tiefe Grübchen.
»Ihr neues Leben dauert also bereits eine Woche und einen Tag«, sagte sie mit einem Seufzer. »Und haben Sie gefunden, was Sie
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